Den Willen erkennen - Praxiskiste
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Den Willen erkennen

Wunsch oder Wille, Wahrnehmung oder Wirklichkeit? Diese Fragen beschäftigen Sozialarbeiterin Leoa Stetten (Name geändert) bei ihrer Arbeit in einer sozialen Psychiatrie fast täglich. Dabei gilt es stets abzuwägen: Wie viel Unterstützung ist notwendig, um zu helfen – aber ohne die persönliche Freiheit einzuschränken? Ein Interview von Amelie Kloos


Praxiskiste: Gab es in deiner bisherigen Arbeit eine Situation, die für dich besonders prägend war?

Leoa Stetten: Ich erinnere mich an eine Situation, die mich nachhaltig geprägt hat, weil der Klient sehr schwierig war. Während einer Psychose behauptete er, er habe von einer Plattenfirma Geld bekommen und wartete nun darauf. Er hat uns vorgeworfen, wir Mitarbeiter hätten das Geld – was aber nicht der Fall war. In der Realität hatte er weder von einer Plattenfirma Geld bekommen, noch mit einer Plattenfirma zusammengearbeitet. Die Situation schaukelte sich immer weiter hoch, bis der Klient aggressiv wurde.

Praxiskiste: Was haben deine KollegInnen und du dann gemacht?

Leoa Stetten: Wir als Mitarbeiter sind nicht in seine Psychose mit eingestiegen und haben ihm stattdessen klar gesagt, dass seine Wahrnehmung nicht der Realität entspricht und wir das Geld nicht haben. Das hat ihm natürlich überhaupt nicht gefallen. Daraufhin sind ein paar Bücher geflogen und er hämmerte gegen die Tür. Da uns nicht ganz wohl bei der Sache war, riefen wir die Polizei. Als die Polizei kam, saß er ganz friedlich und still in seinem Zimmer.

Praxiskiste: Das hört sich sehr herausfordernd an. Unsere LeserInnen würde interessieren, wie du in einer solchen Situation den Unterschied zwischen Wunsch und Wille eines Klienten definierst. Gibt es für dich überhaupt einen Unterschied?

Leoa Stetten: Ja, ich sehe einen Unterschied zwischen Wunsch und Wille. Der Wille ist für mich etwas Stärkeres und Beständigeres als ein Wunsch. Ein Wunsch ist oft temporär, wie etwa:» Ich wünsche mir, dass wir heute zusammen spazieren gehen.« Der Wille hat mehr Tiefe und Hintergrund, etwa: Ich will in einem Jahr ausziehen, weil ich überzeugt bin, dass ich das allein schaffen kann. In meiner Arbeit begegne ich oft Situationen, in denen ich abwägen muss, ob etwas ein vorübergehender Wunsch, eine temporäre Vorstellung oder ein echtes Bedürfnis ist. Es geht darum, zu unterscheiden, was die Klienten im Moment brauchen und was sie wirklich wollen.

Praxiskiste: Können die KlientInnen deiner Erfahrung nach selbst unterscheiden, ob es sich um einen festen Willen handelt, den sie tatsächlich umsetzen und verfolgen möchten, oder ob es lediglich eine vorübergehende Idee ist, die nach ein, zwei Tagen wieder in den Hintergrund tritt?

Leoa Stetten: Es ist sehr individuell und kommt auf den jeweiligen Klienten an. Bei vielen kann man es mit der Zeit abschätzen, welche Wünsche und Aussagen realistisch sind. Besonders bei Klienten, die kognitiv ein bisschen stärker sind, und selber einschätzen können, was für sie umsetzbar ist, erkennt man irgendwann, welche Aussagen und Wünsche einen Hintergrund haben und vom Klienten selber in der Zukunft umgesetzt werden können.

Praxiskiste: Wie gehst du damit um, wenn du den Eindruck hast, dass das Ziel nicht realistisch ist? Ist es nicht schwierig, dabei die Wünsche und Träume der Person zu respektieren?

Leoa Stetten: In so einem Fall würde ich offen kommunizieren. Es ist wichtig, dass die Klienten eine andere Einschätzung erhalten, da dies Teil der Arbeit ist, die in diesem Fall gemacht werden sollte oder muss. Ich würde vielleicht mit einer Zeitspanne anfange und sagen: »Ich sehe nicht, dass Sie in einem Jahr ausziehen. Wenn Sie ein Jahr weiterhin so gut mitarbeiten oder Ihren Haushalt führen können, dann könnte ich mir vorstellen, dass Sie das in ein, zwei Jahren hinbekommen.« Eben mit einem Zeitaspekt verknüpfen, aber nicht ganz ausschlagen, denn das wäre falsch.

Praxiskiste: Das heißt, du lässt den KlientInnen ihre Perspektive, trotzdem machst du klar, dass ihre Erwartungen möglicherweise nicht erreicht werden können.

Leoa Stetten: Ich finde es ebenso spannend, darüber nachzudenken, wo der Wille der Klienten anfängt und wo er aufhört. Wo die Grenze ist, ohne den Klienten ihre Freiheit und ihren Willen zu nehmen. Besonders bei Personen, für die eine Unterbringung angeordnet wurde[HD1] , wird ein Stück der Freiheit eingeschränkt, da eine Unterbringung eine freiheitsentziehende Maßnahme ist.

Praxiskiste: Da sehe ich auch die Schwierigkeit, die Balance zu halten. Man will nicht zu sehr in das Leben der KlientInnen eingreifen, gleichzeitig muss man die Verantwortung wahrnehmen, denn die KlientInnen verlassen sich bestimmt auch ein Stück weit auf dich.

Leoa Stetten: Ja, die Klienten sind freie Menschen, die Hilfe von uns bekommen. Dennoch haben wir nicht das Recht, ihnen irgendetwas zu verbieten.

Praxiskiste: Wie würdest du den Erfolg deiner Arbeit beurteilen?

Leoa Stetten: Ein Erfolg ist es in jeder Hinsicht. Gleichgültig, ob der Klient, eine Sache umsetzt, bei der ich vorher dachte: »Oh je, das wird gar nichts.« Wenn es dann doch klappt, ist das ein Erfolg. Aber auch wenn es nicht klappt, ist das eine wichtige Erkenntnis für den Klienten. Das mag vielleicht eine Enttäuschung sein, aber man wächst auch aus jeder Enttäuschung ein Stück weit. Ein Erfolg kann auch darin liegen, dass der Klient mehr Vertrauen oder mehr Sicherheit in einen gewinnt, wenn man mit ihm offen und ehrlich kommuniziert. Ich finde es aber trotzdem wichtig, dass die Klienten ihren Willen äußern und auch Dinge umsetzen dürfen, auch wenn es mir nicht in mein eigenes Denken reinpasst. Alleine schon, dass ein Wille besteht, ist wertvoll. Das hat nicht jeder, vor allem, wenn jemand dementsprechend krank ist, oder mit Depressionen und anderen Schicksalsschlägen kämpft, ist ein Wille nicht selbstverständlich.

Praxiskiste: Was motiviert dich in deiner Arbeit, trotz der schwierigeren Momente weiterzumachen?

Leoa Stetten: Ich habe immer wieder Situationen, in denen ich mir denke, dass mich meine Klienten nerven. Aber wenn ich dann darüber rede oder meine Gedanken reflektiere, dann wird mir wieder klar: Meine Klienten sind kranke Menschen, die – auch wenn sie es nicht immer zeigen – dankbar sind, dass man da ist. Und wenn es Einrichtungen wie unsere nicht geben würde, dann säßen unsere Klienten alle auf der Straße. Jeder und jede hat seinen Charakter, jeder hat seine liebevolle, nette Art. Das sieht man aber nicht immer. Eigentlich schon eine schöne Arbeit: dass man Personen, die in der Gesellschaft nicht so gut ankommen, ein bisschen auffangen kann.