Zwischen Strafe und Hoffnung
Wenn Jugendliche vor Gericht stehen, kommen immer auch die betreuenden SozialpädagogInnen der Jugendgerichtshilfe zu Wort. Sie gehen auf die persönlichen Hintergründe der Jugendlichen, mögliche Tatursachen und konkrete Sanktionsvorschläge ein. Bei der ehemaligen Jugendrichterin Dr. Tamara Pitz, Professorin für Zivilrecht an der Hochschule Kempten, fragen wir nach, wie wichtig diese Rolle ist. Schon in ihrer Doktorarbeit hat sie sich damit beschäftigt, wie elementar es ist, nachhaltig auf den jeweiligen Jugendlichen einzugehen. Ein Interview von Célina Weingand
Praxiskiste: Warum haben Sie den Beruf als Jugendrichterin hinter sich gelassen und sind als Professorin an die Hochschule gewechselt?
Prof. Dr. Tamara Pitz: (lacht) Also, ich muss sagen, ich war wahnsinnig gerne Richterin. Es schlugen aber schon immer zwei Herzen in meiner Brust. Bei der Justiz war ich in jedem Rechtsgebiet gerne tätig. Gerade das Jugendstrafrecht gefiel mir aber besonders gut, da ich dort das Gefühl hatte, wirklich etwas bewirken und bewegen zu können. Natürlich klappt das nicht in jedem Fall, aber ich glaube, wenn man sich Mühe gibt, dann hat man dort schon Chancen. Aber ich hatte und habe eben auch die andere Leidenschaft: die Lehre. So habe ich bereits an der Universität viel gelehrt, etwa in Arbeitsgemeinschaften oder Seminaren, aber auch in zwei Kriminologie-Vorlesungen. Nachdem ich erfahren habe, dass an der Hochschule Kempten eine Professur für Zivilrecht, meinem letzten Tätigkeitsfeld bei Gericht, ausgeschrieben ist, habe ich mich beworben, wohlwissend, dass ich dann nicht mehr als Richterin tätig sein kann. Ich habe es aber nicht bereut.
Praxiskiste: Was war denn Ihr schwierigster Fall in den vier Jahren als Jugendrichterin? Oder gibt es etwas, das Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Prof. Dr. Tamara Pitz: Schwierig und aufwühlend waren immer die Fälle, in denen es besonders menschlich und emotional wurde. Ich habe stets versucht, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Zum Beispiel habe ich sie gefragt: »Wieso müssen Sie denn Betäubungsmittel konsumieren? Warum müssen Sie sich betäuben?« Wenn die Jugendlichen dann erzählt haben, konnte man oft durchaus nachvollziehen, warum sie sich in den Rausch flüchten, etwa weil es zu Hause so schwierig ist oder weil insgesamt die Dinge in die ganz falsche Richtung laufen.
Praxiskiste: Und wie sehr hilft Ihnen dabei der Bericht der Jugendgerichtshilfe, das Kind hinter dem Täter zu sehen?
Prof. Dr. Tamara Pitz: Ich fand den Bericht sehr wichtig. Die RichterInnen sehen die Jugendlichen oder Heranwachsenden immer nur sehr kurz. Außerdem müssen sie als Angeklagte nichts sagen, auch nicht zu den persönlichen Verhältnissen, wenn sie nicht möchten. Und dann ist es manchmal recht schwer, sich ein objektives Bild zu machen. Wenn aber die Jugendgerichtshilfe bereits im Vorfeld mit ihnen gesprochen hat, bestenfalls in Begleitung der Eltern, erfährt das Gericht vieles, etwa: Wie ist es zu Hause? Wie läuft es schulisch? Wieso läuft es schulisch vielleicht nicht? …
Praxiskiste: Können Sie das nicht auch selbst erfragen?
Prof. Dr. Tamara Pitz: Natürlich konnte und musste ich das in der Sitzung erfragen, aber es ist oft so, dass erstmal die Schuldfrage zu klären ist. Dann ist, wenn der oder die Angeklagte erst gerade strafmündig geworden ist, die Frage zu klären, ob überhaupt hinreichende Einsichts- und Steuerungsfähigkeiten vorhanden sind. Außerdem steht im Jugendstrafrecht gerade der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Insofern steht der Jugendgerichtshilfe auch ein Sanktionsvorschlagsrecht zu. Es ist also elementar zu wissen, was er oder sie jetzt in der Situation konkret an jugendrichterlichen Maßnahmen braucht, um nicht mehr rückfällig zu werden. Dabei hilft die Einschätzung der Jugendgerichtshilfe sehr.
Praxiskiste: Die Jugendgerichtshilfe lässt den RichterInnen ja vorab Berichte über die Jugendlichen zukommen. Wie haben Sie diese Dokumente in der Vorbereitung genutzt?
Prof. Dr. Tamara Pitz: Mich interessierte natürlich insbesondere aus welchen Verhältnissen der oder die Angeklagte kommt. Ich habe den gesamten Bericht gelesen und mir mögliche Fragen an den Rand geschrieben. Wenn es zum Beispiel hieß, dass der Angeklagte demnächst seine Abschlussprüfung antritt, habe ich mir aufgeschrieben, dass ich nachfragen will, ob er jetzt den Schulabschluss geschafft hat. Bei einem Heranwachsenden interessierte mich auch schon im Vorfeld der Sitzung, ob die Jugendgerichtshilfe eher zur Anwendung des Jugend- oder des Erwachsenenstrafrechts tendiert.
Praxiskiste: Gibt es Ihrer Meinung nach auch Verhandlungen, bei denen man auf die Anwesenheit der Jugendgerichtshilfe verzichten könnte? Es gibt ja auch kleinere Delikte oder Fälle, bei denen die Jugendlichen gar nicht bei der Jugendgerichtshilfe waren.
Prof. Dr. Tamara Pitz: Mittlerweile hat sich das Gesetz dazu geändert. § 38 JGG, der die Jugendgerichtshilfe betrifft, ist sehr umfassend erweitert worden. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass grundsätzlich ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe zur Hauptverhandlung entsendet wird und dort natürlich auch zu beteiligen ist. Aus meiner Sicht macht die grundsätzliche Anwesenheit der Jugendgerichtshilfe aus den genannten Gründen durchaus Sinn.
Praxiskiste: Was wären denn Verbesserungsvorschläge für die Zusammenarbeit zwischen Gericht und Jugendgerichtshilfe?
Prof. Dr. Tamara Pitz: Ehrlich gesagt, sehe ich selbst keinen Verbesserungsbedarf. Ich kann jetzt aber natürlich nur für Sonthofen und die Oberallgäuer Jugendgerichtshilfe sprechen.
Praxiskiste: Gibt es etwas Positives, das Sie hervorheben möchten?
Prof. Dr. Tamara Pitz: Was ich sehr wichtig finde und mittlerweile so auch gesetzlich kodifiziert ist, sind regelmäßige Treffen all derjenigen, die in die strafrechtliche Jugendarbeit involviert sind. Ich habe damals als Jugendrichterin halbjährliche runde Tische ins Leben gerufen, um allen Beteiligten allgemeine Gespräche darüber zu ermöglichen, was gut ist und was vielleicht noch verbessert werden kann. Meiner Meinung nach hilft es sehr, wenn sich die Beteiligten kennen und regelmäßig austauschen.
Praxiskiste: Haben Sie denn noch etwas, das Sie der Leserschaft abschließend mitgeben möchten?
Prof. Dr. Tamara Pitz: Ich glaube, dass das Wohl der Jugendlichen oder der Heranwachsenden immer im Vordergrund stehen muss. Ich finde es wichtig, immer die Person zu sehen und sich zu fragen, was dahintersteckt, wieso es so weit kam und wie jetzt alle Beteiligten – inklusive natürlich der Jugendgerichtshilfe – dazu beitragen können, dass für sie oder ihn die Zukunft eine Bessere wird. Wir können natürlich nur Hilfestellung bieten, das ist auch klar. Das habe ich auch immer so gesagt: »Ich kann Ihnen einen Rettungsring zuwerfen, aber Sie müssen ihn ergreifen und dann auch irgendwann selber schwimmen.« Wenn wir dabei aber alle an einem Strang ziehen, glaube ich, kann man wirklich viel bewegen.