»Durch Aufgeben erschwert man sich das eigene Leben« - Praxiskiste
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»Durch Aufgeben erschwert man sich das eigene Leben«

Lenrick Freimholz (Name geändert) kennt sowohl die Kälte des Gefängnisses als auch die Enge der Obdachlosenunterkunft. Nach einem schweren Schicksalsschlag wurde er obdachlos und fand in der Sozialen Arbeit seinen Rettungsanker. In einem offenen Gespräch erzählt er, wie wichtig die Arbeit sozialer Einrichtungen ist, um Menschen aus der Obdachlosigkeit zu befreien. Ein Interview von Melissa Müller


Praxiskiste: 
Lenrick, was hat dir heute schon ein Lächeln ins Gesicht gezaubert?

Lenrick Freimholz: Mir schenkt eigentlich jeder kleine Schritt in die Zukunft ein Lächeln.

Praxiskiste: Das ist wirklich sehr schön zu hören. Mich und meine LeserInnen interessiert natürlich besonders deine Lebensgeschichte und wie du in die Obdachlosigkeit geraten bist.

Lenrick Freimholz: Begonnen hat alles, nachdem ich im März 2020 einen schweren Verkehrsunfall verursacht hatte, und nach einem Ermittlungsverfahren im Oktober 2021 schließlich in die JVA Kempten kam.

Praxiskiste: Das ist ein schweres Schicksal. Bist du dann nach dem Gefängnisaufenthalt obdachlos geworden?

Lenrick Freimholz: Ja, das ist kein Geheimnis. Nach meiner Entlassung aus der JVA am 29. September 2023 ging ich zu meiner ehemaligen Lebensgefährtin. Dort teilte sie mir dann mit, dass sie in einer neuen Beziehung sei und ich nicht mehr bei ihr wohnen könne, obwohl dies im Vorfeld eigentlich anders vereinbart war.

Praxiskiste: War das eure gemeinsame Wohnung?

Lenrick Freimholz: Ja, es war unsere gemeinsame Wohnung. Aber dadurch, dass ich länger als zwei Jahre nicht dort gelebt hatte, ließ meine ehemalige Frau, ohne mein Wissen, die Wohnung auf sich überschreiben und bekam das alleinige Sorgerecht für unsere Kinder – ohne dass ich vor Gericht angehört worden bin.

Praxiskiste: Das muss sehr schwer gewesen sein. Hast du dann eine Zeit lang auf der Straße gelebt?

Lenrick Freimholz: Nein, auf der Straße habe ich nie gelebt. Nach meiner Entlassung habe ich mich zunächst an Frau W. von der Diakonie gewendet, zu der ich noch regelmäßig Kontakt habe. Sie begleitete mich zur Bewährungshilfe, wo mir geraten wurde, mit dem Überbrückungsgeld (Geld welches ehemalige Strafgefangene nach der Haftentlassung erhalten, um vorerst ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können) zunächst für eine Woche in eine Ferienwohnung zu ziehen, was ich dann auch gemacht habe. Zusätzlich half mir Frau W. auch dabei, in die Obdachlosenunterkunft am Schuhmacherring zu kommen. Dort war ich acht Monate. Danach habe ich eine Zeit lang bei meiner letzten Partnerin gelebt. Nachdem die Beziehung endete, bin ich hier in die Unterkunft in der Reinhartserstraße gekommen.

Praxiskiste: Dann hattest du einen relativ langen Weg, um hierher zu kommen. Laut der Website des Deutschen Instituts für Menschenrechte sind die Rechte vieler Menschen in Notunterkünften massiv eingeschränkt und häufig herrschen dort niedrige Hygienestandards. Wie ist das in deiner Unterkunft? Kannst du beschreiben, wie es ist, hier zu leben?

Lenrick Freimholz: Die Unterkunft an sich wäre eigentlich nicht schlecht, allerdings sind vor allem die Betten in einem schlechten Zustand. Insbesondere die Lattenroste sind defekt und die Matratzen verschmutzt, da sie offensichtlich von mehreren Personen genutzt werden. Die Räume sollten meiner Meinung nach gesäubert werden, wenn es einen Bewohnerwechsel gibt und die Stadt sollte die vorhandenen Ressourcen mehr für die Unterkünfte einsetzen.

Praxiskiste: Gibt es weitere Probleme in dieser Unterkunft?

Lenrick Freimholz: Ein weiteres Problem sind leider oft die Mitbewohner, die willkürlich zugeteilt werden und teilweise in den Zimmern rauchen und Drogen konsumieren. Dadurch, dass wir keine Einzelzimmer haben, ist das Zusammenleben oft schwierig – besonders für Menschen mit gesundheitlichen Problemen wie bei mir das Asthma.

Praxiskiste: Welche Hilfen nimmst du denn aktuell in Anspruch?

Lenrick Freimholz: Ich bekomme aktuell vom Arbeitsamt in Kempten das Arbeitslosengeld I und auch die Frau W. hat mich umfangreich unterstützt. Zusätzlich habe ich regelmäßig Kontakt mit der Frau P. von der Bewährungshilfe, wegen der Führungsaufsicht (eine gerichtliche Maßnahme zur Nachbetreuung und Überwachung von ehemaligen Straftätern) und wir Bewohner haben natürlich die Unterstützung der Mitarbeiterinnen dieser Unterkunft. In einer solchen Situation muss man ein breites Hilfenetzwerk aufbauen, weil man nur so vorankommt. Durch Aufgeben erschwert man sich nur das eigene Leben.

Praxiskiste: Welche dieser Hilfen würdest du als besonders wichtig einstufen?

Lenrick Freimholz: Eine der wichtigsten Hilfen ist diese Unterkunft – vor allem durch die beiden Mitarbeiterinnen hier. Besonders, da sie bei jeglichen Problemen unterstützen und man immer mit ihnen reden kann, wenn man das möchte. Du weißt: »Hier ist jemand der dir hilft, wenn du ein Problem hast.« Ich bewundere und respektiere die Mitarbeiterinnen sehr für ihre Leidenschaft und Fürsorge, weil die Arbeit hier nicht immer einfach ist.

Praxiskiste: Und inwieweit bewertest du diese Hilfe als förderlich für deine Lebenssituation?

Lenrick Freimholz: Die Unterstützung ist sehr wichtig für mich und andere Obdachlose, weil die Mitarbeiterinnen uns mit Dokumenten und Anträgen oder anderen Anliegen aller Art helfen. Der Ort hier ist einer der Wichtigsten für einen Obdachlosen, denn er gibt Sicherheit und ist für mich lebenswichtig.

Praxiskiste: Also wird die Hilfe der Unterkunft auch von anderen Obdachlosen gerne angenommen?

Lenrick Freimholz: Ja. Auf jeden Fall. Das liegt aber ehrlicherweise an den beiden Mitarbeiterinnen hier. So ein Job sollte meiner Meinung nach kein Beruf, sondern eine Berufung sein.

Praxiskiste: Dazu würde mich interessieren, wie du die Rolle der Sozialen Arbeit heute bewertest, jetzt wo du sie selber in Anspruch nimmst. Hat sich deine Sichtweise darauf verändert?

Lenrick Freimholz: Ich habe die Soziale Arbeit und andere soziale Berufe schon immer positiv gesehen und die Tätigkeiten der Mitarbeiter, aus dem sozialen Bereich schon immer zu schätzen gewusst.

Praxiskiste: Das ist sehr bemerkenswert. Welche Aspekte würden dein Hilfenetzsystem denn noch weiter verbessern?

Lenrick Freimholz: Ich würde sagen, die Sanierung der Unterkunft würde das Leben hier besser machen. Vor allem, wenn die Sanierung von den Obdachlosen selbst durchgeführt werden würde. Das wäre für die Stadt auch kostengünstiger.

Praxiskiste: Okay, und was würdest du Menschen raten, die in die Wohnungslosigkeit kommen, um ihnen die gesamte Situation zu erleichtern?

Lenrick Freimholz: Meiner Meinung nach ist das Allerwichtigste, Kontakt zu den Notunterkünften aufzunehmen da man dadurch eine Adresse und ein Dach über dem Kopf hat. Dadurch kann man seine Situation verarbeiten. Das war ehrlicherweise auch für mich überlebenswichtig.

Praxiskiste: Das Thema Obdachlosigkeit ist in der Gesellschaft häufig mit Stigmatisierung verbunden. Hast du mit Ablehnung oder Stigmatisierung privat oder gesellschaftlich schon einmal Erfahrungen gemacht?

Lenrick Freimholz: Ja, durch den Bruder meiner letzten Freundin. Der hat damals überall erzählt, dass ich obdachlos bin und hat behauptet ich hätte mir meine letzte Freundin nur gesucht, damit ich aus der Obdachlosenwohnung rauskomme. Naja, und das große Problem mit Stigmatisierung in Kempten sehe ich in dem Moment, in dem du etwas brauchst, da jeder diese Adresse hier kennt. Vor allem Vermieter, Wohnbaugesellschaften oder die Stadtverwaltung. Und das Hauptproblem: »Zwischen einem vernünftigen und unvernünftigen Obdachlosen wird nicht unterschieden.« Dadurch ist der Zugang zu einer Arbeit oder zu einer Wohnung erschwert. In diesem Kontext findet schon Stigmatisierung statt.

Praxiskiste: Es muss schwer sein, wenn alle Obdachlosen über einen Kamm geschert werden. Welchen Herausforderungen begegnest du sonst im Moment?

Lenrick Freimholz: Die größte Herausforderung aktuell ist es, eine Wohnung zu finden. Ich würde zukünftig gerne wieder allein in einer Wohnung wohnen und einer normalen Tätigkeit nachgehen.

Praxiskiste: Du meist also einen gewöhnlichen Alltag haben?

Lenrick Freimholz: Ja. Alles andere möchte ich abwarten, je nachdem wie sich das Leben weiterentwickelt.

Praxiskiste: Gibt es einen Grund, warum das aktuell dein größtes Ziel ist?

Lenrick Freimholz: Ja, das liegt daran, dass man in dieser Unterkunft ziemlich gehindert und eingeschränkt ist. Beispielsweise dürfen wir als Bewohner, beruflich, keine Selbstständigkeit ausüben. Problematisch ist das auch für mich, da ich schon mal selbstständig war und durch die Regelung kann ich nicht dahin zurück.

Praxiskiste: Verständlich. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Anzahl an wohnungslosen Menschen in den letzten zwei Jahren enorm gestiegen. Kannst du dir erklären, warum diese Zahlen so stark ansteigen?

Lenrick Freimholz: Das ist eine ganz einfache Frage. Meiner Meinung nach liegt der Anstieg der Obdachlosen an den steigenden Mieten und dem teuren Lebensunterhalt. Beides ist fast unmöglich zu finanzieren vor allem da die Löhne fast nicht ansteigen.

Praxiskiste: Gibt es zum Ende des Interviews eine Botschaft, die du gerne mit der Gesellschaft, und auch mit meinen LeserInnen teilen möchtest?

Lenrick Freimholz: Meiner Meinung nach sollte die Obdachlosen-Arbeit mehr gefördert werden da diese in Deutschland leider sehr weit unten positioniert ist und auch nicht wertgeschätzt wird. Da müsste man einen Weg finden, diese weiter nach oben zu bringen. Soweit ich weiß, werden nur ca. drei Prozent des städtischen Budgets für die Obdachlosenhilfe eingesetzt. Da sollte man meiner Meinung nach versuchen, eine gerechtere Lösung zu finden.