Wie viel Mitgefühl verträgt ein Herz
Die Kinder, die in einem Heim leben, tragen oft ein größeres Päckchen mit sich, als ein junger Mensch ertragen sollte. Sie wurden aus verschiedenen Gründen aus ihren Familien genommen und sehnen sich nach nichts mehr als nach Liebe und Geborgenheit. Lisa N., Betreuerin mit Herz und Verstand, gibt uns einen ehrlichen Einblick in diese oft verborgene Welt. Sie erzählt von den Herausforderungen, die sie täglich begleiten, wenn Arbeit und Herz manchmal im Konflikt stehen. Doch sie berichtet auch von leuchtenden Momenten: von der Lebensfreude, die die Kinder trotz ihrer schweren Geschichten ausstrahlen, und von den Situationen, die sie dabei selbst immer wieder überraschen. Lisa lässt uns teilhaben an ihrer Suche nach Balance zwischen Mitgefühl und Selbstschutz, um mit völliger Hingabe für die Kinder da zu sein, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Ein Interview von Ronja Schuster
Praxiskiste: Wie beschreibst du Außenstehenden deine alltägliche Arbeit im Heim?
Lisa N.: Das Klischee ist ja meistens, dass wir Betreuer den ganzen Tag nur mit den Kindern spielen – das stimmt so aber nicht. Unsere Arbeit geht weit darüber hinaus. Wir begleiten die Kinder im Alltag, helfen bei Schulaufgaben, bringen sie zu Vereinen oder Ärzten und verbringen die Freizeit mit ihnen. Wir sind Teil ihres Lebens, erleben ihre Höhen und Tiefen hautnah mit und sehen sie aufwachsen. Es fühlt sich oft wie eine große Familie an – mit dem Unterschied, dass viele der Kinder schon ein großes Päckchen mitbringen. Traumata prägen ihren Alltag und unsere Aufgabe ist es, sie Schritt für Schritt bei der Verarbeitung zu unterstützen.
Praxiskiste: Gibt es Themen im Heimkontext, die für Außenstehende schwer zu begreifen oder schockierend sind?
Lisa N.: Viele denken, Kinder im Heim hätten keine Familie – das stimmt aber oft nicht. Viele haben Familien, sind aber aus unterschiedlichen Gründen dort raus genommen worden. Solche Gründe sind zum Beispiel Kindeswohlgefährdung, jede Art von Misshandlung oder Vernachlässigung. Den Fall der Inobhutnahme kennen die meisten Menschen, überraschend für Außenstehende ist eher, dass es auch Kinder und Jugendliche gibt, die freiwillig kommen. Sie suchen sich Hilfe, vertrauen sich jemandem an und erkennen selbst, dass ihre Situation zu Hause nicht normal ist. Sie hoffen auf ein besseres Leben und entscheiden sich bewusst fürs Heim.
Praxiskiste: Hat dich das auch am meisten überrascht?
Lisa N.: Auch, aber am meisten hat mich tatsächlich überrascht, dass die Kinder das Heim oft erstaunlich schnell als ihr neues Zuhause akzeptieren. Anders als ich dachte, versuchen die meisten nicht, wegzukommen. Natürlich gibt es Momente, in denen sie traurig sind, aber insgesamt sind sie hier glücklich. Die BetreuerInnen und MitbewohnerInnen werden zu einer Art Ersatzfamilie.
Praxiskiste: Ja, das überrascht vermutlich viele. Was macht denn die Arbeit im Kinderheim für dich so einzigartig im Vergleich zu anderen Bereichen der Sozialen Arbeit?
Lisa N.: Die Arbeit im Kinderheim ist vor allem deshalb so besonders, weil man, wie schon erwähnt, den Kindern unglaublich nah ist und eine zentrale Rolle in ihrem Leben spielt. Für viele sind wir Betreuer die einzigen festen Bezugspersonen. Wir leben mit ihnen, begleiten sie durch alle Höhen und Tiefen und wachsen regelrecht mit ihnen auf. Manche Kinder sind von klein auf bei uns – wie zum Beispiel ein Geschwisterpaar, das seit sieben Jahren im Heim lebt. Wir haben all ihre Meilensteine miterlebt: den ersten Kindergartentag, jede Trotzphase, jeden Wackelzahn, den ersten Schultag, die erste Übernachtungsparty und den ersten Liebeskummer.
Praxiskiste: Ja, wie du schon gesagt hast, man wird die Ersatzfamilie …
Lisa N.: Das stimmt, diese Nähe und Kontinuität findet man in kaum einem anderen Bereich. Während man im Kindergarten die Kinder nur eine begrenzte Zeit begleitet, ist man im Kinderheim immer da. Das macht die Arbeit nicht nur herausfordernd, sondern auch unglaublich wertvoll. Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass man gebraucht wird. Die Kinder bauen eine Beziehung auf, sie vertrauen dir, gewöhnen sich an dich und vermissen dich, wenn du mal nicht da bist.
Praxiskiste: Das klingt sehr schön und es freut mich, dass es dir so viel Freude bereitet. Du hast jedoch vorhin die Traumata erwähnt und dass es manchmal schwierig ist, mit traumatisierten Kindern zu arbeiten. Was ist denn für dich die größte Herausforderung bei der Arbeit?
Lisa N.: Die größte Herausforderung im Umgang mit traumatisierten Kindern ist tatsächlich, die richtige Distanz zu wahren. Sie sehnen sich nach Nähe und die geben wir ihnen natürlich, doch es ist wichtig, die Geschichten nicht mit nach Hause zu nehmen. Das ist mir vor allem anfangs oft schwer gefallen, besonders wenn ich höre, was diese kleinen Kinder schon durchgemacht haben und wie sie teilweise überleben mussten. Ich habe mir so oft den Kopf zerbrochen, wie ich ihnen noch mehr helfen kann. Doch letztlich habe ich gemerkt, dass sie dankbar sind, einfach da sein zu dürfen und eine neue Familie gefunden zu haben. Sie wollen nicht, dass ich mir zuhause Sorgen mache, sondern, dass ich im Moment präsent und für sie da bin.
Praxiskiste: Gehört der allgemein bekannte Personalmangel auch zu den Herausforderungen?
Lisa N.: Auf jeden Fall! In einem Heim gibt es oft nicht genug Personal, um sich intensiv mit jedem Kind zu beschäftigen. Bei uns leben viele Kinder und es ist leider oftmals nicht so geregelt wie in einer »normalen« Familie. Gerade durch Zuhören und Zeithaben könnten kleine Schritte der Traumaverarbeitung gemacht werden. Doch oft fehlt genau dafür die Zeit und die Momente, in denen ein Kind Unterstützung braucht, können oft nicht aufgefangen werden.
Praxiskiste: Du hast die »Distanz« angesprochen. Unsere LeserInnen würde interessieren, wie du es schaffst, Nähe zu den Kindern aufzubauen und für sie da zu sein, um eine gute Arbeit zu leisten, ohne die professionelle Distanz zu verlieren? Ist das in der Realität überhaupt möglich, vor allem in einem Heim?
Lisa N.: Eine sehr gute Frage. Nähe aufzubauen, ist in der Regel nicht schwierig. Sobald die Kinder merken, dass ihr Betreuer da ist und Zeit hat, suchen sie oft von selbst Nähe. Schwieriger ist es, die Distanz zu halten. In unserem Beruf ist ein gesunder Mittelweg entscheidend: Nähe zulassen, aber auch Abstand bewahren. Das Ziel ist, nicht alles an sich heranzulassen – leichter gesagt als getan, da wir quasi mit den Kindern zusammenleben und sie den ganzen Tag betreuen. Ich würde sagen, sobald man wirklich Nähe zulässt, wird professionelle Distanz schwer. Natürlich gibt es Regeln und Grenzen, aber die Kinder wachsen einem ans Herz, und man gibt alles für sie. Zum Beispiel gehören Rituale wie Gute-Nacht-Sagen, Kuscheln oder ein »Hab dich lieb« dazu. Es ist wichtig, dass Kinder auch so etwas hören. Nähe und Distanz gleichzeitig und dauerhaft auszubalancieren, ist meiner Meinung nach nicht vollständig möglich.
Praxiskiste: Was hilft dir denn diese »Distanz« zu bewahren und welche Rolle spielt Psychohygiene in deinem Alltag?
Lisa N.: Selbstfürsorge und Psychohygiene sind in unserem Beruf enorm wichtig. Ich habe bewusst eine Stelle gewählt, die 30 Minuten von meinem Wohnort entfernt ist. Diese Zeit im Auto, mit lauter Musik, hilft mir, abzuschalten. Man kann sagen, ich baue dadurch schon mal räumliche Distanz auf, was mir sehr hilft. Auch Unternehmungen mit Familie und Freunden oder Reisen geben mir den nötigen Ausgleich. Besonders viel Kraft gibt mir der Austausch mit Kollegen, die die gleichen Erfahrungen machen wie ich. Gemeinsam reflektieren wir, tauschen uns aus und suchen nach neuen Wegen, um unsere Arbeit besser zu gestalten.
Praxiskiste: Das klingt gut! Aber gab es denn schon einmal Situationen, in denen es dir trotzdem schwerfiel, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu bewahren?
Lisa N.: Ja, natürlich! Es gab schon einige Situationen, in denen es mir nicht gelungen ist, die richtige Balance zu finden und zu halten.
Praxiskiste: Möchtest du uns davon erzählen?
Lisa N.: Ja klar. Wir haben zwei Jungs in unserer Einrichtung, vier und sechs Jahre alt, die mich wie eine Ersatz-Mama sehen. Am Anfang war es ein täglicher Kampf mit ihnen, der uns alle belastet hat. Schließlich brach bei ihnen alles heraus: Wut, Trauer, Verzweiflung. Sie schrien, zerstörten Dinge, schlugen um sich! Ich war bei ihnen, versuchte sie zu beruhigen, abzulenken – nichts half.
Praxiskiste: Es war für sie vermutlich der einzige Weg, ihre Gefühle loszuwerden.
Lisa N.: Leider schon. Aber plötzlich brach der ältere Junge einfach zusammen. Er lag still auf dem Boden, bis er flüsterte: »Lisa, bitte verlass mich nicht.« Diese Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich nahm ihn in den Arm und wir saßen da, beide weinend. Ich hielt ihn einfach nur fest und wiederholte immer wieder: »Ich bin bei dir. Ich bleibe bei dir.« Bis heute fragen sie mich manchmal, ob ich ihre Mama sein kann. Ich erkläre ihnen immer wieder, dass ich sie lieb habe und für sie da bin, aber nicht ihre Mama ersetzen kann. Sie haben eine Mama, und das ist wichtig, auch wenn sie sich kaum um ihre Jungs kümmert. Eine gesunde emotionale Grenze zu ziehen, ist für mich schwierig, aber sie vor kleinen Kindern zu bewahren, fühlt sich oft unmöglich an.
Praxiskiste: Dein letzter Satz war wirklich beeindruckend – es scheint nahezu unmöglich, die Balance zu bewahren, vor allem mit kleinen Kindern. Gab es denn weitere besondere Begegnungen mit einem Kind oder Jugendlichen, die dir im Gedächtnis geblieben sind? Wenn ja, würdest du uns davon erzählen?
Lisa N.: Ja, sehr viele. Jedes Kind und jeder Jugendliche hat eine besondere Geschichte. Ein Geschwisterpaar bleibt mir besonders in Erinnerung. Die Beiden, damals acht und neun Jahre alt, kamen aus eigener Initiative zu uns. Zu Hause herrschten strenge Regeln: Bei kleinsten Verstößen mussten sie stundenlang in der Ecke stehen, durften nicht aufs Klo, wurden im Zimmer eingesperrt, bekamen kaum zu essen und durften das Haus nicht verlassen – nach Corona durften sie nicht einmal zur Schule. Stattdessen mussten sie den Haushalt führen und ihre kleineren Geschwister versorgen. Erst als die Schule Druck gemacht hat, durften sie wieder dorthin gehen und haben bemerkt, dass etwas bei ihnen daheim nicht stimmte.
Praxiskiste: Wie kamen sie dann ins Heim?
Lisa N.: Sie hatten den Mut zur Schulpsychologin zu gehen und ihr von ihrer Situation zu erzählen. Dann ging es relativ schnell, dass sie aus der Familie rausgenommen wurden. Mit Polizei und Jugendamt wurden sie abgeholt und zu uns gebracht. Leider wurden nur die zwei, die sich getraut haben, etwas zu sagen, aus der Familie genommen und die Kleineren aufgrund von mangelnder Beweise nicht. Das Gefühl, ihre kleineren Geschwister im Stich gelassen zu haben, hat die zwei regelrecht aufgefressen!
Praxiskiste: Das ist in diesem Alter ein wahnsinnig großer Schritt und braucht sehr viel Mut!
Lisa N.: Ja, absolut. Es war unglaublich, ihre Entwicklung mitzuerleben. Sie mussten erst lernen, Kind sein zu dürfen, Emotionen zu zeigen und Vertrauen aufzubauen. Ihre Mutter machte es ihnen schwer, therapeutische Hilfe zu bekommen. Sie verweigerte alles und setzte sie unter Druck, zurückzukehren, obwohl die Kinder das nicht wollten. Sie versprach ständig, dass der Stiefvater sich geändert habe und jetzt alles gut werden würde. Die zwei wollten ihrer Mutter so gerne glauben, aber hatten einfach kein Vertrauen in ihre Worte. Das ist einfach zu viel für so kleine Kinderherzen! Einmal saßen sie weinend da und fragten mich, ob sie bei uns bitte groß werden dürfen.
Praxiskiste: Ihr habt es geschafft, ihnen ein Zuhause zu geben, in dem sie sich wohl gefühlt haben!
Lisa N.: Das schon, aber sie mussten leider nach nur zwei Jahren unerwartet das Heim verlassen. Der Abschied war herzzerreißend – sie wollten nicht gehen und auch wir, das Team, hatten damit stark zu kämpfen. Doch das Positive an der Geschichte ist, dass sie bei uns lernten, was es heißt, geliebt zu werden und ein Stück Zuhause zu finden. Wir sind immer noch in Kontakt, es sind so tolle und liebenswerte Kinder und das zeigt, wie wichtig solche Bindungen sein können.
Praxiskiste: Das Leben dieser Kinder wurde auf jeden Fall bereichert! Solche Geschichten geben einem dann doch sicher wieder ein bisschen Kraft, oder?
Lisa N.: Definitiv! Aber schon allein kleine Momente bedeuten so viel. Zum Beispiel, wenn man abends nach einem langen, anstrengenden Tag den Kindern »Gute Nacht« sagt, und plötzlich kommt ein vierjähriges Kind, nimmt dich in den Arm und sagt: »Ich hab dich lieb.« In solchen Augenblicken ist der ganze Stress wie weggeblasen. Oder wenn ich zur Arbeit komme und die Kinder schon voller Freude auf mich warten, bereit, ihre neuesten Geschichten zu erzählen – das sind die Augenblicke, die im Herzen bleiben und unglaublich viel Kraft schenken.
Praxiskiste: Vielen Dank, Lisa, für dieses wertvolle Gespräch und deine offenen Einblicke in diese oft verborgene Welt. Ich glaub für unsere LeserInnen ist es beeindruckend zu sehen, wie viel Liebe und Unterstützung du diesen Kindern gibst und wie ihnen geholfen wird, einen Weg ins Leben zu finden. Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft und viele schöne, unvergessliche Momente.
Lisa N.: Danke, das wünsch ich dir natürlich auch.