»Beziehungsarbeit ist das A und O« - Praxiskiste
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»Beziehungsarbeit ist das A und O«

Benachteiligte Gruppen in die Gesellschaft integrieren – das ist eines der zentralen Ziele der Sozialen Arbeit. Doch wie gelingt die praktische Umsetzung? Die Sozialpädagogin Corinna Schiele schildert im Interview, wie ihr Arbeitsalltag als Wohnbereichs- und Teamleitung aussieht, was für sie der Schlüssel zu einer gelingenden Integration ist – und warum Beziehungsarbeit dabei so wichtig ist. Ein Interview von Adrian Schellhorn

 

Praxiskiste: Was würde passieren, wenn es auf der Welt keine SozialpädagogInnen mehr gäbe?

Corinna Schiele: Grundsätzlich sind wir Sozialpädagogen eine Unterstützung für Menschen in prekären Lebenslagen wie in der Kinder- und Jugendhilfe, der Familienhilfe oder bei uns in der Eingliederungshilfe. Somit würde sich auf jeden Fall die soziale Unterstützung verschlechtern. Gleichzeitig würden soziale Probleme zunehmen, weil wir oft auch Unterstützer bei Armut oder Obdachlosigkeit sind. Außerdem kommt hinzu, dass es weniger Integration und Inklusion gäbe, weil wir betroffene Klienten unterstützen, einen Zugang zur Gesellschaft zu erlangen. Das heißt, es hätte nicht nur individuelle Folgen, sondern Konsequenzen für die ganze Gesellschaft.

Praxiskiste: Welche Kompetenzen sind Deiner Meinung nach für einen Menschen wichtig, um als SozialpädagogIn im Bereich der Eingliederungshilfe zu arbeiten?

Corinna Schiele: Ganz oben sehe ich die Empathie: sich in Menschen hineinversetzen zu können und Gefühle und Bedürfnisse zu verstehen und wahrzunehmen, selbst wenn der Klient diese vielleicht nicht direkt vermitteln kann. Gerade in unserem Arbeitsbereich ist die Kommunikationsfähigkeit sehr wichtig und damit auch die Beziehungsgestaltung. Das ist das A und O. Außerdem gehört auch dazu, dass man Teamfähigkeit besitzt.

Praxiskiste: Warum ist es wichtig, gut im Team arbeiten zu können?

Corinna Schiele: Funktionierende Teamarbeit ist unabdingbar für unsere Tätigkeit, weil wir sehr viel mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Damit geht Konfliktmanagement einher, weil es bei einer engen Teamarbeit oft zu Reibereien oder Auseinandersetzungen kommt. Da ist es wichtig, dass die Konflikte miteinander schnell und konstruktiv gelöst werden. Zudem wird Resilienz benötigt. Da der Job oftmals mit Stress und Belastungen verbunden ist, ist es wichtig, resilient und damit auch standhaft zu sein. Zum Schluss ist allgemein das Fachwissen wichtig.

Praxiskiste: Als Wohnbereichsleitung hast Du viele verschiedene Aufgaben in Deinem Arbeitsalltag. Welche sind das?

Corinna Schiele: Eine Aufgabe als Wohnbereichsleitung ist das Belegungsmanagement. Hierbei koordiniere ich die Belegung von Wohnplätzen in meinem Zuständigkeitsbereich, organisiere die Ein- und Auszüge von Klienten und bin immer mit den Kostenträgern in Kontakt. Außerdem bin ich zuständig fürs Personalmanagement. Beispielsweise führe ich Bewerbungs- oder Kündigungsgespräche. Außerdem gehört zu meinem Zuständigkeitsbereich die Qualitätssicherung, was bedeutet, dass alle Standards bzw. gesetzlichen Vorlagen eingehalten werden. Als Bereichsleitung bilde ich die Schnittstelle zwischen Gesamtleitung und Team, agiere dort quasi als Kommunikationsorgan.

Praxiskiste: Du hast eine gesplittete Stelle und bist neben Wohnbereichs- auch Teamleiterin. Welche Aufgaben hast Du als Teamleitung?

Corinna Schiele: Als Teamleitung bin ich fürs Teammanagement zuständig, das heißt, ich leite mein Team und bin für die Abläufe und Prozesse, aber auch für die Zufriedenheit in meinem Team, zuständig. Hierzu führe ich regelmäßig Eins-zu-Eins-Gespräche und bin Ansprechpartner bei Anliegen. Gleichzeitig arbeite ich noch ein- bis zweimal pro Woche im Schichtdienst mit, also im Gruppenalltag, und habe da direkten Kontakt mit den Klienten.

Praxiskiste: Worauf kommt es bei Deiner alltäglichen Arbeit besonders an?

Corinna Schiele: Beziehungsarbeit ist das A und O in unserer täglichen Arbeit. Der Vertrauensaufbau sorgt für eine gewisse Sicherheit zwischen dem Klienten und dem Sozialpädagogen. Mit einer guten Beziehung kann für den Klienten auch das Gefühl eines Zuhauses ermöglicht werden. Emotionale Sicherheit ist sehr wichtig für einen Klienten, da er oft traumatische Erfahrungen in der Vergangenheit hatte – vor allem im Arbeitsfeld mit Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Die emotionale Sicherheit bietet dafür eine gewisse Stabilität.

Praxiskiste: Ein wichtiger Grundsatz der Sozialen Arbeit ist der Begriff der »Hilfe zur Selbsthilfe«. Wie wendest Du dieses Konzept in Deinem Arbeitsalltag bei Regens Wagner an und wie gelingt es Dir, mit den KlientInnen auf Augenhöhe zu handeln und die Selbstbestimmung der KlientInnen zu erhalten?

Corinna Schiele: Meiner Meinung nach muss man sich vor Augen halten, dass es unsere Arbeit ist, ein Assistent der Klienten zu sein. Das heißt, ich leiste Assistenz, damit sie in ihrem Alltag so selbstbestimmt wie möglich leben können. Hierbei entsteht, wie ich finde, automatisch eine Augenhöhe, weil der Klient Spezialist für sein eigenes Leben ist, also am besten weiß, was gut für ihn ist oder was er möchte. Somit ist unsere Aufgabe, den Klienten bei der Umsetzung seiner Ziele und Wünsche zu unterstützen.

Praxiskiste: Kannst Du uns dafür ein Beispiel nennen?

Corinna Schiele: Menschen mit psychischer Beeinträchtigung haben in unserer Einrichtung oftmals das Ziel, selbständig zu leben. Somit assistieren wir diesen Klienten in den Belangen, in denen sie wirklich Hilfe benötigen. Tätigkeiten, die sie bereits selbständig erledigen können, unterstützen wir weiter, ohne diese ihnen abzunehmen. So kann man Kompetenzen weiterentwickeln und die Klienten zu ihrem bestmöglich selbstbestimmten Leben begleiten.

Praxiskiste: Hat die Selbstbestimmung auch Grenzen?

Corinna Schiele: Ja, etwa wenn es zu lebensgefährlichen Situationen kommt, wie bei einem Diabetiker im Unterzucker. Dann muss zwingend eine Intervention erfolgen. Aber in erster Linie setze ich mich über die Wünsche und Belange der Klienten in Kenntnis und entwickle dann gemeinsam mit ihnen auf Augenhöhe einen Lösungsansatz oder einen Weg zum Erreichen des Wunsches.

Praxiskiste: Welche Techniken können dabei helfen?

Corinna Schiele: Ein Grundsatz, den ich in meinem Arbeitsalltag anwende, ist zu reflektieren, wie es mir selbst gehen würde, wenn ich in der Situation des Gegenübers wäre. Um ein Beispiel zu nennen: Jemand betritt einfach meinen Wohnraum und sagt, ich solle jetzt mein Zimmer aufräumen. Das fände ich auch nicht cool. Und vielleicht gibt mir etwas Unordnung auch eine Sicherheit. Von außen kann nicht beurteilt werden, ob die Unordnung einer Person Sicherheit gibt oder nicht. Somit ist man immer angeleitet, nachzudenken, wie man sich selbst fühlen würde, wenn so mit einem umgegangen oder gesprochen wird.

Praxiskiste: Das bedeutet also, der Dialog und Austausch mit dem Klienten ist das Wichtigste?

Corinna Schiele: Ja, das ist das A und O, weil ich nur so wissen kann, was ihn bewegt, wo er hin möchte in seinem Leben oder auch, was ihm in einer Krise hilft. Im Austausch kann er mir am besten sagen, was er braucht und was ihm hilft.

Praxiskiste: Wir haben nun über Inklusion in Deinem Berufsalltag gesprochen, aber wie siehst Du es im gesamtgesellschaftlichen Kontext?  Findet Deiner Meinung nach für Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Teilhabe in der heutigen Gesellschaft statt?

Corinna Schiele: Meiner Meinung nach hat die gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderung noch sehr viel Luft nach oben. Hierbei gibt es die klassischen physischen Barrieren – also Gebäude, die nicht barrierefrei gestaltet sind. Beispielsweise besitzt das Cineplex in Memmingen keinen Aufzug. Man kann dort zwar im Voraus anrufen und fragen, ob ein Film in einen Raum im Erdgeschoss verlegt werden kann, dies hat aber mit einer richtigen Teilhabe nichts zu tun. Außerdem liegen meiner Meinung nach noch sehr viele Vorurteile und Stereotype in der Gesellschaft vor, die ziemlich oft durch Unwissenheit und fehlender Nähe zu Menschen mit Behinderung bedingt werden.

Praxiskiste: Was könnte getan werden, um die Situation zu verbessern?

Corinna Schiele: Eine Verbesserung ist meiner Meinung nach durch Aufklärungen und Schulungen zu erreichen. Schon im Kindergarten und in der Grundschule sollte die Gesellschaft sensibilisiert werden, um Vorurteile und Stereotype abzubauen.

Praxiskiste: Und wie steht es Deiner Meinung nach um die politische Teilhabe?

Corinna Schiele: Hier haben Menschen mit Behinderung aktuell kaum Möglichkeiten, mitzumischen. Es wird sich bestimmt Einiges tun, wenn sie aktiv mitwirken können – und nicht nur kurz gefragt werden.

Praxiskiste: Wie ich herausgehört habe, scheint Inklusion ein sehr wichtiges Thema für Dich zu sein. Warum ist es so bedeutsam, die Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderung in der heutigen Gesellschaft voranzutreiben?

Corinna Schiele: Menschen mit Behinderung sind ein Teil der Gesellschaft, werden aber aktuell oft als Randgruppe behandelt und fallen in verschiedenen Überlegungen und Entscheidungen nach hinten. Deshalb gibt es eigentlich nichts Wichtigeres, als Randgruppen in die Mitte der Gesellschaft zu bringen.

Praxiskiste: Zum Schluss möchte ich Dich gerne fragen, welche Empfehlungen Du künftigen SozialpädagogInnen mit auf den Weg gibst?

Corinna Schiele: Grundsätzlich ist eine positive Beziehung zu den Klienten ausschlaggebend für unsere Arbeit. Diese ist das A und O, weil dadurch oftmals Dinge, Gespräche oder die Nähe zu Klienten ermöglicht werden, die zuvor für unmöglich gehalten wurden. Außerdem würde ich das Hineinversetzen in die Lage des Anderen weiterempfehlen. Dies hat auch mit Beziehungsarbeit zu tun, zu überlegen, was man sich selbst als Klient von einem Sozialpädagogen wünschen würde und was ein No-Go wäre.

Praxiskiste: Und welche Tipps hast Du, um in dem fordernden Beruf gesund zu bleiben?

Corinna Schiele: Ich empfehle, auf die Selbstfürsorge und Psychohygiene zu achten. Eine Balance zwischen Beruf und Privatleben ist essenziell, denn im Arbeitsalltag treten oft herausfordernde Situationen auf, die verarbeitet werden müssen. Dafür ist es wichtig, gewisse Grenzen für sich selbst zu ziehen. Hierbei hilft eine professionelle Beziehung zwischen dem Klienten und dem Sozialpädagogen: Es werden emotionale Grenzen gesetzt, sodass die eigenen Gefühle und Belange von denen des Klienten getrennt werden und diese nicht auf einen selbst überspringen. Als Letztes würde ich die Rollen- und Verantwortungsgrenzen nennen. Als Sozialpädagoge ist man zwar die Fachkraft, der Klient trägt aber trotzdem die Verantwortung in gewisser Form für sich selbst und trifft die Entscheidungen.  Schlussendlich ist es also in einem sozialen Beruf unabdingbar, sich selbst bei seiner Tätigkeit nicht zu vernachlässigen.