Der a(typische) Klient - Praxiskiste
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Der a(typische) Klient

Ex-Bandenchef, Drogenvergangenheit und schizophren – seit seiner Jugend ist Jonas Winter (Name geändert) Klient in verschiedensten Sozialhilfeeinrichtungen. Also der typische Klient der Sozialen Arbeit, oder etwa nicht?! Der zweite Blick zeigt einen jungen Mann, der ganz und gar nicht den gängigen Klischees entspricht. Im Interview spricht der ehemalige Gymnasiast über seinen Lebensweg, seine Schritte in die Selbstständigkeit – und wie ihm die Soziale Arbeit dabei geholfen hat. Ein Interview von Alwin Rubel

 

Praxiskiste: Du hast im September deine Ausbildung als Verkäufer begonnen und nimmst Fahrstunden für den Führerschein. Wie selbstständig und verantwortungsbewusst würdest du dich selbst einschätzen?

Jonas Winter: Die Wohnform hier gibt mir einen gewissen Rahmen, wie zum Beispiel einmal die Woche Putzen und Aufräumen. Ich finde es eigentlich ganz schön, ab und zu gesagt zu bekommen, auf was ich noch ein bisschen mehr achten sollte. In meiner Ausbildung wiederum muss ich selbstständig, manchmal um 4.00 Uhr, noch bevor Betreuer vor Ort sind, aufstehen – das gelingt mir auch gut. Dass ich selbstständig und verantwortungsbewusst sei, wurde mir auch bei meinem Probezeitgespräch auf der Arbeit bestätigt.

Praxiskiste: Wobei genau kann dir die Herzogsägmühle überhaupt noch helfen?

Jonas Winter: Als ich letztens von der Arbeit nach Hause gekommen bin, hat die Gabi von der Hauswirtschaft gerade Kuchen gebacken und mir auf Nachfrage selbstverständlich direkt das größte Stück Kuchen und einen Kaffee gegeben – das sind natürlich tolle Momente. Außerdem sorgen die Betreuer dafür, dass ich Zugang zu meiner Medikation habe und ich meinen Platz hier behalten darf – da kann ich von Glück reden. Voraussetzung ist natürlich immer, dass ich meinen Teil dazu beitrage. Ich habe mich auch informiert: theoretisch gibt es Wohnungen auf dem freien Markt, welche mittlerweile in meinem Budget liegen, aber ich weiß, was ich in der Herzogsägmühle – mit den Wochenendaktionen, der sozialen Gemeinschaft, frischem Frühstück und gekochtem Mittagessen – alles an Vorteilen genieße.

Praxiskiste: Wie ergeht es dir persönlich hier mit den MitklientenInnen und SozialarbeiterInnen, wie wirst du von ihnen behandelt?

Jonas Winter: Ich habe das Gefühl von den Sozialarbeitern hier sehr freundlich behandelt zu werden. Die kenne ich aber auch schon länger und habe festgestellt – je mehr ich auf die Leute zugehe und je mehr ich von mir gebe, desto mehr bekomme ich auch an positiven Gefühlen zurück. Bei den Mitklienten, ebenso den Mitschülern, ist es so, dass es da sehr nette gibt, aber auch welche, die nichts mit mir zu tun haben wollen.

Praxiskiste: Wie sah dein Lebensweg aus, bevor du in die Herzogsägmühle gekommen bist?

Jonas Winter: Nach dem Kindergarten und der Grundschule war ich auf dem Gymnasium, anschließend in einer Klinik, danach in Spanien in der Fazenda da Esperança und schließlich bin ich hier eingezogen. Das Gymnasium habe ich dann einmal wechseln müssen, da ich wegen Bandenkriminalität verurteilt wurde. Damals sind meine beiden Großeltern gestorben, woraufhin wir in die kleine Wohnung meines Opas gezogen sind. In der Zeit hatte ich ziemlich viel Kontakt mit zwielichtigen Typen, es kam sogar bis zu einer Hausdurchsuchung bei mir zu Hause. Als Chef einer Gang von ca. 20 Leuten, habe ich auch angefangen Drogen zu nehmen. Aufgrund der Justiz habe ich mich aber wieder mehr auf die Schule konzentriert. Dann hatte ich auch gute Noten, war sogar Klassensprecher, bis die Drogen wieder dazukamen…

Praxiskiste: Warum hast du angefangen Drogen zu nehmen, kannst du das an irgendetwas festmachen?

Jonas Winter: Nö. Ich habe mich einfach meinem Umfeld angepasst, wollte es ausprobieren, cool sein und irgendwann hat es einfach dazugehört. Alkohol, Cannabis, Spice, Speed und Ritalin. Es gab sogar eine Zeit, in der ich vor der Schule Speed gezogen habe, tagsüber Alkohol getrunken, was geraucht und abends noch ein Teil geschmissen. Bis die Schule und meine Eltern irgendwann gesagt haben, dass das so nicht weiter gehe und ich einen Entzug machen solle.

Praxiskiste: Was ist dann passiert?

Jonas Winter: Weil mir damals alles egal war, haben meine Eltern mich rausgeschmissen, woraufhin ich zuerst im Jugendwohnheim und dann in einer Inobhutnahme-Station gelandet bin. Schließlich wurde ich aber, weil ich immer wieder abgehauen bin, von einem Richter wegen Unzurechnungsfähigkeit in die Geschlossene auf Entzug eingewiesen – zunächst für sechs Wochen, nach einer Verlängerung dann insgesamt ganze drei Monate. Im Anschluss war ich nochmals in einer ähnlichen Einrichtung, wo ich wiederum angefangen habe, Drogen zu nehmen. Letzten Endes bin ich nach Spanien auf den Jakobsweg gegangen, jeden Tag gelaufen, 800 Kilometer insgesamt.

Praxiskiste: Wie bist du auf den Jakobsweg gekommen?

Jonas Winter: Ich wollte das schon immer mal machen, und nachdem die stationäre Klinik mich aufgrund der Drogen vorzeitig entlassen hat und meine Eltern nicht wussten, was sie mit mir machen sollten, haben sie mich nach Spanien zum Pilgern geschickt. Dort haben sie auch diese christliche Gemeinschaft, die Fazenda, gefunden, wo ich dann ein Jahr in »Therapie« war. Offiziell war das ein Freiwilliges Soziales Jahr und nach diesem habe ich nochmals drei Jahre dort gelebt und gearbeitet. Ich habe mein Leben dort an andere und an Gott, an das Leben selbst, verschenkt. In Rücksprache mit meinem Psychiater, habe ich meine Medikamente abgesetzt und bin leider geistig und psychisch rückfällig geworden, habe sogar wieder getrunken und ab und zu einen Joint geraucht. Seit ich allerdings in die Herzogsägmühle gekommen bin, bin ich wieder clean. Ich möchte das hier durchziehen, mit der Ausbildung und ich habe Angst habe durch Alkohol den Bezug zu verlieren. Auch das Kiffen ist für meine psychische Erkrankung gar nicht gut.

Praxiskiste: Was hast du genau für eine psychische Erkrankung?

Jonas Winter: Ich habe schon unterschiedliche Diagnosen bekommen. Erst war es eine schizoaffektive Störung mit Sucht, dann nur eine Sucht. Aktuell lautet meine Diagnose paranoide Schizophrenie, also Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Stimmen hören usw. Aktuell bin ich aber medikamentös eingestellt und habe keinerlei Symptome.

Praxiskiste: Das freut mich! Du hast in deinem Lebenslauf schon Kontakt zu verschiedenen Stationen der Sozialen Arbeit gehabt. Wie wichtig waren diese für dich?

Jonas Winter: Ohne diese Stationen wäre ich wahrscheinlich noch weiter abgestürzt, denn für mich ist es bzw. war es ganz wichtig, eine Struktur zu haben und auch Bezugspersonen, die einem Werte vermitteln. Durch die Fazenda hatte ich das: eine Ordnung mit Arbeit und im Alltag – zudem ist es sehr prägend für mich hier in der Herzogsägmühle eine Ausbildung machen zu können.

Praxiskiste: Befürwortest du ganz allgemein soziale Einrichtungen wie die Herzogsägmühle – und damit die Soziale Arbeit?

Jonas Winter: Ich befürworte auf jeden Fall generell die Soziale Arbeit. Wenn ich aber an soziale Wohnformen denke, habe selbst ich erstmal kein positives Bild davon. Da denke ich an unglückliche Kinder und Jugendliche in einer düsteren Umgebung. Sobald man sich aber damit befasst, stellt sich heraus, dass das gar nicht so ist.

Praxiskiste: Was bedeutet der Begriff »Soziale Arbeit« für dich überhaupt?

Jonas Winter: Sozialarbeiter helfen Menschen, egal in welcher Not sie sich befinden und, für mich, sind sie zu vergleichen mit Schullehrern, die ihren Schülern Werte vermitteln; Personen, zu denen man kommen kann, und mit denen man reden kann, die man in behördlichen Angelegenheiten um Hilfe bitten kann und die solche Dinge auch für ihre Klienten klären. Mein Betreuer schaut einfach darauf, dass es mir gut geht und ich am Ball bleibe. Auch habe ich schon einmal Erfahrung mit Streetworkern gemacht, die sich, als ich im Stadtpark auf einem Trip umgekippt bin, um mich gekümmert haben.

Praxiskiste: Findest du es nicht traurig, dass die Gesamtgesellschaft Hilfebedürftigen in sozialen Einrichtungen oft abschätzig gegenübertritt – oder wie siehst du das?

Jonas Winter: Ich finde diese Aussage natürlich hart, aber auf der anderen Seite auch verständlich. Ich kann zwar nichts für meine psychische Krankheit, aber Drogen zu nehmen und kriminelle Sachen zu tun, das war meine Entscheidung und ist damit auch meine Verantwortung. Trotzdem wünsche ich mir natürlich einen offenen Austausch mit Mitmenschen ganz ohne Verurteilung aufgrund von Stigmata ob von mir oder dem anderen.

Praxiskiste: Was meinst du könnte man dagegen unternehmen?

Jonas Winter: Man könnte die Menschen generell für solche Themen sensibilisieren und auch positive Beispiele nennen. Jeder Mensch ist unterschiedlich und deswegen sollte man nicht alle über einen Kamm scheren – der eine schafft es, der andere nicht, jeder handelt anders, hat ein anderes Schicksal, eine andere Geschichte. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft für jeden individuellen Menschen die Augen auf macht – für die Leute, die tatsächlich da sind.

Praxiskiste: Jetzt noch zum Schluss: Für wie wichtig erachtest du, dass jeder unser Sozialsystem fördert, wo es nur möglich ist?

Jonas Winter: Es ist wichtig, dass hilfebedürftige Menschen in einem positiven Werdegang unterstützt werden. Ich persönlich bin sehr froh und dankbar dafür, denn ohne solche Einrichtungen wie die Fazenda oder die Herzogsägmühle hätten manche, die aus dem Raster fallen, gar keine Möglichkeit wieder einen Zugang zur Gesellschaft zu finden. Für mich ist es schon sehr wichtig, ebenso für mein Leben und ganz allgemein würde ich sagen, ist es auch wichtig.