Die Last, sich Hilfe zu suchen - Praxiskiste
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Die Last, sich Hilfe zu suchen

Sie erfuhr Partnerschaftsgewalt und suchte sich daraufhin professionelle Unterstützung. Ein Gespräch mit Sabine über den Moment, in dem sie die Notbremse zog, die Zugänglichkeit von Hilfe und welche Art von Unterstützung sie damals vermisst hat. Ein Interview von Lena Tomasini


Praxiskiste: Sie haben ja die Hilfe des Frauennotrufs in Anspruch genommen. Was genau war der Grund dafür?

Sabine: Mein Lebenspartner ist, man würde sagen, aufbrausend oder impulsiv. Das erste Mal hat er mich geschubst, sodass ich auf den Boden geflogen bin. Beim zweiten Mal hat er mich aus dem Bett geschmissen. Das war, glaube ich, als er mich plötzlich gewürgt hat. Und dann kam das dritte Mal. Ich kam sehr spät von der Arbeit heim und wollte ihm noch gute Nacht sagen. Er hat mir keine Antwort gegeben, dann bin ich gegangen. Plötzlich hörte ich, wie er mir hinterherkam. Ich drehte mich um. Daraufhin hat er mir ins Gesicht geschlagen, dass ich getaumelt oder hingeflogen bin.

Praxiskiste: Wie haben Sie sich in diesen Situationen gefühlt?

Sabine: Am Anfang wusste ich es nicht so richtig einzuschätzen. Ich dachte, er ist halt aufbrausend und gestresst. Ich dachte, warten wir mal. Ich habe ihm nach und nach mehr Zugeständnisse gemacht und die emotionale Abhängigkeit wurde unbemerkt immer stärker. Dann dachte ich aber, jetzt musst du die Notbremse ziehen. Am Tag nach dem zweiten Vorfall habe ich zu ihm gesagt: »Wenn du mich ein drittes Mal attackierst, ist Ende.«

Praxiskiste: Das dritte Mal ist ja passiert. Haben Sie Ihrer Beziehung dann ein Ende gesetzt?

Sabine: Mir war klar, beim dritten Mal ist Schluss und das ziehe ich auch durch. Aber ich wusste nicht wie. Ich habe seinen Hausarzt angerufen und gesagt, was passiert ist. Er hat zu mir gesagt: »Sie zeigen ihn an und gehen ins Krankenhaus und lassen das dokumentieren.« Dann war ich im Krankenhaus und die Ärztin hat das dokumentiert und gefragt, ob sie die Polizei rufen soll. Nachdem ich mich im Krankenhaus aber nicht gut behandelt und wohl gefühlt habe, habe ich gesagt, dass ich selbst zur Polizei gehe. Dann stehst du da vor der Polizei und es gibt kein Zurück mehr. Ich bin rein gegangen und habe es erzählt.

Praxiskiste: Was waren die Konsequenzen für Ihren Lebenspartner?

Sabine: Die Polizistin war sehr gut für diese Situation ausgebildet und hat diese besser erfasst, als ich es selbst konnte. Nach der Anzeigenaufnahme hat sie zu mir gesagt, wir schmeißen ihn raus und setzen ihn auf die Straße. Ich bin vorausgefahren, dann haben die Polizisten zu ihm gesagt, er soll seine Sachen zusammensammeln und muss das Haus verlassen. Ich schlief die nächsten Nächte aus Angst woanders. Drei Tage später bin ich zum Amtsgericht gegangen um, ich weiß nicht, Gewaltschutz zu beantragen, damit er sich mir nicht mehr nähern und das Haus nicht mehr betreten darf. Irgendwann nach drei Monaten – zu der Zeit war Corona und er hatte keine Bleibe – stand er wieder da. Er war physisch und psychisch am Ende. Die Trennung habe ich dann doch nicht endgültig durchgezogen.

Praxiskiste: Hat Ihr Partner Sie danach nochmal angegriffen?

Sabine: Es hat alles gut angefangen und ungefähr vier Monate darauf war nochmal eine Attacke. Er schmiss mich auf das Bett, er beschimpfte mich böse und hielt mich an der Hand fest. Er drehte sie um und sagte, er wird sie brechen. Ich dachte nur daran, wie ich hier lebendig rauskomme.

Praxiskiste: Wie haben Sie damals gemerkt, dass Sie Hilfe brauchen?

Sabine: Da ich Angstzustände bekam, dachte ich mir, du musst jetzt versuchen, deine Panik loszuwerden, um wieder geradeaus denken zu können. Und ich dachte außerdem, ich muss psychologische Hilfe holen, um zu verstehen, was schiefläuft.

Praxiskiste: Wie haben Sie dann von dem Frauennotruf erfahren?

Sabine: Ich habe mit Psychologen telefoniert und gesagt: »Ich brauche dringend einen Termin. Ich habe ein Trauma.« Der Dritte, Vierte oder Fünfte hat dann zu mir gesagt: »Sie sind ein Fall für den Frauennotruf.« Und da habe ich dann sofort angerufen.

Praxiskiste: Wie hat sich dieses erste Telefonat dann für Sie angefühlt?

Sabine: Was gut war, es war einfach eine klare, ruhige Stimme, die weder Mitleid noch Vorwürfe oder dumme Ratschläge hatte. Es war eine beruhigende Situation, mit jemandem zu reden, der weiß, was ist. Das gibt eine gewisse Sicherheit. Und, dass jemand sagt, das ist eine großartige Seite, jemandem eine zweite Chance zu geben. Du hörst von allen nur: »Wie kann man so dumm sein.« Und denkst das dann auch selbst: »Es liegt auch an mir, weil ich gutmütig bin und zu wenig auf mich selbst schau und in manchen Fällen zu viel nachgebe.« Also: »Ich bin selbst schuld«. Aber es ist nicht das eigene Manko.

Praxiskiste: Was hat Ihnen Mut gemacht, so weit zu gehen und sich Hilfe zu suchen?

Sabine: Mut ist etwas anderes. Das war nicht immer »ich will«, sondern es war ein Gefühl, eine innere Stimme, die mir gesagt hat: »Wenn du das überleben willst und wenn du dir selbst treu bleiben willst, dann musst du das jetzt machen.« Der Mut kam nach und nach.

Praxiskiste: Welche Herausforderungen oder unterstützenden Faktoren gab es auf dem Weg zur professionellen Hilfe?

Sabine: Du musst sie selbst suchen. Ich war damals nochmal bei der Polizei und da hing ein Plakat vom deutschlandweiten Frauennotruf. Da habe ich dann angerufen, weil ich einfach jemanden zum Sprechen gebraucht habe. Die Beratung war nicht gut an dem Tag. Mir wurde gesagt, es gebe schlimmere Fälle. Daran habe ich gemerkt, dass sich die Beraterin überhaupt nicht für mich interessiert.

Praxiskiste: Solche Hilfetelefone können Frauen vor Ort auch Hilfsangebote und Unterstützungsmöglichkeiten vermitteln. War das bei Ihnen auch so?

Sabine: Nein, das war sehr enttäuschend.

Praxiskiste: Es gibt in Kempten das Kemptener Interventionsmodell KIM, ein proaktiver Ansatz, der an das Frauenhaus angegliedert ist. Wenn Partnerschaftsgewalt passiert und die Polizei verständigt wird, bekommt – die Erlaubnis der Frau vorausgesetzt- KIM ein Schreiben und meldet sich bei der Frau. Gab es bei Ihnen so etwas?

Sabine: Das hat total gefehlt. Dass jemand da ist. Das KIM, ein Flyer oder solche Sachen. Auf jeden Fall fehlte ein Hinweis, eine Art Opferbetreuung. Ich habe Freunde gehabt, ich habe auch Sicherheit gehabt, aber nichts für die Psyche und das Emotionale. Vielleicht weil ich den Eindruck vermittelt habe, ich habe das schon im Griff.

Praxiskiste: Wie geht es Ihnen mittlerweile?

Sabine: Seitdem ist nichts mehr vorgefallen und die Ängste sind weg. Die Unsicherheit ist allerdings immer da, sehr schwach, aber du legst sie nicht ab. Wie geht es mir? Es geht mir soweit viel besser. Ich lache wieder, freue mich des Lebens und habe wieder Humor. Ganz glücklich bin ich aber nicht. Es ist eigentlich eine Beziehung, die ich vielleicht vor zehn Jahren schon hätte beenden sollen, weil wir sehr verschieden sind. Ich kann es nicht so richtig beantworten.