Leben nach der Alkoholsucht – Erfahrungen mit dem Hilfesystem - Praxiskiste
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Leben nach der Alkoholsucht – Erfahrungen mit dem Hilfesystem

Wie fühlt es sich an, Hilfe in einer Suchtberatungsstelle zu suchen? Was braucht es, um den Weg aus der Abhängigkeit wirklich zu gehen? In diesem Interview berichten ein Betroffener und seine Ehefrau offen von ihren Erfahrungen, Herausforderungen und Hoffnungsmomenten. Es geht um erste Schritte, den Mut zur Veränderung und die Kraft eines unterstützenden Umfelds. Der Einblick zeigt, wie wichtig professionelle Begleitung und persönliche Begegnung für eine nachhaltige Veränderung sein können – und dass sich der Weg lohnt. Ein Beitrag von Michelle Oebels.

 

Praxiskiste: Was hat Sie dazu bewegt, Hilfe in einer Suchtberatungsstelle zu suchen?

Bernhard E.: Als mir mit der zwölften Abmahnung von meinem Chef klar wurde, der macht jetzt ernst, bin ich zur Entgiftung ins Krankenhaus gegangen. Da kam einer von der Caritas an mein Krankenbett und sagte: »Da gibt es was, und du darfst kommen.« Mir wurde klar, dass ich aus meiner Sucht bloß rauskomme, wenn ich jede Hilfe annehme. Damals gab es noch eine ambulante Therapie, die ich in Anspruch genommen habe. Zeitgleich bin ich zum Freundeskreis gegangen. Ich bin aus voller Überzeugung hingegangen und habe 18 Monate Therapie durchlaufen. Das war der Weg. So bin ich vom ortsbekannten Säufer zum bekennenden Freundeskreisler geworden.

Praxiskiste: Wie würden Sie den ersten Kontakt mit der Beratung beschreiben? Wie hat es sich für Sie angefühlt?

Bernhard E.: Ich bin mit einem saumäßig flauen Gefühl im Magen zur Beratung gegangen, denn alles, was neu ist, macht Angst. Doch mit dem ersten »Grüß Gott« und einem empathischen Lächeln habe ich mich aufgenommen gefühlt. Ich konnte mich dann auch ziemlich schnell öffnen. Es war eine neue Welt, in der ich Herz und Seele öffnen konnte.

Praxiskiste: Gab es neben dem ersten Kontakt mit der Caritas noch eine andere Hilfe oder Unterstützungssituation, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist und Ihnen bis heute Kraft gibt?

Bernhard E.: Das wäre die Biografiearbeit im Zuge der Therapie. Darauf sind die dunklen, harten Zeiten auf dem Zeitstrahl zu sehen – aber auch, wie viel Sonne, wie viel Licht ich mir in der Zeit der Abhängigkeit gestohlen habe. Wie viel Lebensqualität ich verschenkt, vergeudet, verjubelt habe. Zu erkennen, dass es trotz dieser Dunkelheit auch Sonnen-Augenblicke gab.

Praxiskiste: Ist das etwas, das Ihnen manchmal noch Kraft gibt?

Bernhard E.: Ja. Meine Mama ist früh gestorben und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass viele wohlgesonnene Menschenseelen ihre Finger im Spiel hatten. Der Lichtblick im Nachgang sagt mir, dass auch in der dunklen Zeit jemand da war, der mich nicht hat fallen lassen – und dieses Zeichen der Hoffnung trägt mich jetzt noch.

Praxiskiste: Frau E., wie unterstützen Sie Ihren Mann auf seinem Weg?

Lotte E.: Zu Hause gibt es keinen Alkohol. Wenn ich merke, da ist was, gehe ich auf ihn zu, um einen Rückfall zu vermeiden. Ich bin eine von vielen Stützen. Je mehr er hat, umso besser. Wenn ich schwächer bin, sind andere da, die ihn mittragen.

Praxiskiste: Gibt es für Sie etwas, dass Sie sich für die Suchtberatung wünschen würden?

Bernhard E.: Ich würde befürworten, wenn es wieder ambulante Therapien in Kempten gäbe – als zusätzlicher Weg gerade für Selbstständige, die den Laden nicht einfach schließen können. Zudem müssten die Beratungsstellen personell massiv aufgestockt werden. Mit der Legalisierung von Cannabis wird uns ein Zug überrollen. Ich finde die Legalisierung sehr schwierig.

Praxiskiste: Was würden Sie Menschen raten, die noch nicht den Weg in die Beratung gewagt haben?

Bernhard E.: Einfach mal einen Selbsttest machen – gibt’s im Netz. Oder in den Sucht-Chat vom Freundeskreis gehen, täglich von 19:00 bis 21:00 Uhr. Da bekommt man Rückmeldungen. Wenn jemand da ist, reift oft schon die Einsicht.

Lotte E.: Der Chat wird von ihm und anderen betreut, die schon länger trocken sind.

Bernhard E.: Oder einfach mal bei einer Selbsthilfegruppe »Grüß Gott« sagen. Alles ist unverbindlich, kostenlos – aber nicht umsonst.