»Mit Mitleid ist niemandem geholfen«
Ehrenamtlich Obdachlosen helfen – das macht Beatrice Wolf in ihrer Freizeit neben ihrem Studium der Sozialen Arbeit. Im Interview erzählt sie von den Herausforderungen und den bereichernden Momenten ihres Engagements und erklärt, inwiefern das Studium ihr dabei nützt. Ein Interview von Rio Wolf.
Praxiskiste: Wie kamst du dazu, in der Obdachlosenhilfe tätig zu sein?
Beatrice Wolf: Mich hat dieses Elend auf Berlins Straßen schon immer sehr mitgenommen und ich habe es teilweise kaum ertragen. Außerdem habe ich schon immer ein großes Interesse für Menschen am Rande der Gesellschaft und habe sehr sensibel auf die katastrophalen Umstände reagiert. Doch mit Mitleid ist niemandem geholfen. Ich wollte irgendetwas aktiv tun – auch wenn es nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. So kam ich zu Berliner Obdachlosenhilfe (BOH), wo ich Essen, Kleidung und Hygieneartikel austeile.
Praxiskiste: Gibt es ein Erlebnis, das dich besonders berührt hat?
Beatrice Wolf: Einmal kam ich etwas früher an unserem Ausgabeort an, die anderen HelferInnen waren noch nicht da, nur ein älterer Mann im Rollstuhl, sehr verschmutzt, mit zerrissenen Kleidern, alkoholisiert. Es war Winter. Dieser Mann ist aus seinem Rollstuhl mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gefallen und hat geschrien, ich schaute mich hilfesuchend um, aber keiner der PassantInnen war im Begriff, ihm zu helfen. So bin ich allein in seine Richtung und habe gerufen, ob mir jemand helfen kann, da ich diesen Mann nicht alleine in den Rollstuhl hätte heben können. Erst auf meinen Hilferuf hin hat ein Passant seine Hilfe angeboten und zusammen haben wir den älteren Mann in den Rollstuhl gehoben. Hätte ich nicht lautstark um Hilfe gebeten, hätte es sicherlich noch eine ganze Weile gedauert, bevor jemand geholfen hätte. Dieses Erlebnis hat mich sehr traurig gemacht. Da liegt ein Mensch schreiend auf dem Boden und alle schauen weg – das ist für mich unbegreiflich.
Praxiskiste: Obdachlosigkeit ist ja häufig stark stigmatisiert. Spielt das bei deinem Engagement eine Rolle?
Beatrice Wolf: Ich habe festgestellt, dass wir von den PassantInnen oft eher als störend wahrgenommen werden. Ich vermute, die Menschen fühlen sich vielleicht durch den Geruch oder den »Lärm« gestört. Oder sie wollen »so etwas« einfach nicht sehen, denn sie möchten in einer heilen Welt leben – und da passen obdachlose Menschen nicht ins Bild.
Praxiskiste: Wie ist deine Beziehung zu den AdressatInnen? Ist sie eher freundschaftlich oder professionell?
Beatrice Wolf: Ich versuche, nicht zu distanziert und professionell zu wirken, sondern mit einer gewissen Wärme den Menschen zu begegnen. Gerade wenn man Menschen regelmäßig sieht, kann man auch mal einen Plausch über dies und das führen. Aber freundschaftlich, nein, das würde nicht funktionieren und wäre unprofessionell.
Praxiskiste: Daran anschließend, wie werden du und deine KollegInnen von euren AdressatInnen wahrgenommen? Habt ihr das Gefühl, die AdressatInnen schätzen eure Arbeit oder seid ihr eher auf Ablehnung gestoßen?
Beatrice Wolf: Wir wurden immer schon sehr freudig erwartet. Die Obdachlosenhilfe gibt vielleicht auch eine Art Struktur. Die Menschen sind oft schon eine Stunde vorher da und die meisten sind uns sehr freundlich gegenüber gestimmt und dankbar für die kleine Unterstützung.
Praxiskiste: Gab es einmal eine Situation, in der du dich unwohl gefühlt hast oder sogar Angst hattest?
Beatrice Wolf: Angst nein, unwohl gefühlt ja. Es kommt immer wieder vor, dass alkoholisierte Personen untereinander Streit anfangen. Gerade wenn es um das Anstehen in der Schlange geht. Da gibt es schon viel Geschrei und auch Flaschen können dabei kaputt gehen. Das ist eine heikle Situation und ich versuche, irgendwie deeskalierend zu wirken, aber hole mir dafür Hilfe von meinen MitstreiterInnen. Allein würde ich nicht versuchen, einen eskalierenden Streit zu schlichten, da mir das zu heikel ist.
Praxiskiste: Du bist Studentin der Sozialen Arbeit. Hat sich deine Perspektive auf das Arbeitsfeld verändert, seitdem du studierst?
Beatrice Wolf: Eigentlich nicht. Da das Thema Obdachlosenhilfe tatsächlich nur sehr oberflächlich behandelt wurde, hat mir das Studium in diesem Bereich keine großen neuen Einsichten verliehen.
Praxiskiste: Gab es etwas eine bestimmte Methode, Theorie oder Ähnliches, bei der du sofort an die Obdachlosenhilfe gedacht hast?
Beatrice Wolf: Vielleicht die Lebensweltorientierung. Lebensweltorientierung heißt für mich, dass man bei obdachlosen Menschen wirklich auf ihren Alltag schaut – was sie brauchen, was sie erleben – und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen sucht, statt einfach nur etwas vorzugeben.
Praxiskiste: Was sollte man mitbringen, um in diesem Arbeitsfeld tätig sein zu können?
Beatrice Wolf: Ich glaube, man darf keine Berührungsängste haben. Die Arbeit ist wirklich taff und man sieht sehr viel Elend. Ich glaube, damit muss man umgehen können. Wenn man merkt, dass einen das alles auffrisst und nicht mehr loslässt, dann ist das nicht die richtige Arbeit. Ich könnte mir das zum Beispiel niemals hauptberuflich in Vollzeit vorstellen, das ist mir zu heftig. Aber ein bis drei Mal die Woche, kann ich gut damit umgehen. Außerdem benötigt man Einfühlungsvermögen und auch Mitgefühl – nicht zu verwechseln mit Mitleid. Und man muss lernen, sich abgrenzen zu können. Das ist elementar.
Praxiskiste: Mit welchem Gefühl kommst du von der Arbeit? Ist es eher ein gutes Gefühl im Sinne von »Ich hab was geschafft« oder ist es eher Resignation?
Beatrice Wolf: Es ist erstaunlich gut, auch wenn wir die Welt mit unserem Engagement nicht retten. Aber allein, dass sich ein paar Menschen über unsere Anwesenheit gefreut haben und das Vertrauen, dass einem oft entgegengebracht wird, wenn die Menschen aus ihrem Leben erzählen, macht demütig und dankbar für all die Dinge, die für uns selbstverständlich sind, aber eben nicht für alle Menschen.