Zwischen Ungleichheit und Empowerment: Wie die Soziale Arbeit auf eine diverse Gesellschaft reagiert - Praxiskiste
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Zwischen Ungleichheit und Empowerment: Wie die Soziale Arbeit auf eine diverse Gesellschaft reagiert

Die Soziale Arbeit steht vor großen Herausforderungen in einer Welt, die immer diverser und globalisierter wird. Migration, soziale Ungleichheit und Diskriminierung prägen nicht nur das Leben vieler Menschen, sondern auch die Arbeit von Fachkräften in diesem Bereich. Prof. Dr. Gökçen Yüksel, Expertin für soziale Disparitäten und Migrationsforschung, spricht im Interview über die Chancen und Herausforderungen, die mit einer pluralen Gesellschaft einhergehen, und wie die Soziale Arbeit dazu beitragen kann, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Ein Interview von Sara Acer

 

Praxiskiste: Was hat Sie dazu bewegt, Soziale Arbeit zu studieren?

Gökçen Yüksel: Ich glaube, der Grund, warum ich Soziale Arbeit studiert habe, war, dass ich schon immer ein großes Interesse an Fragen hatte, die unsere Gesellschaft betreffen. Mich interessiert vor allem die Metaebene: „Was hält Gesellschaft zusammen und was treibt Gesellschaft auch an manchen Stellen auseinander?“ Hinzu kommt: Davor war ich an einer Fachoberschule für Sozialwesen und daher war es naheliegend, dass ich Soziale Arbeit studiere.

Praxiskiste: Warum haben Sie Ihren Schwerpunkt auf die Migrationsgesellschaft gelegt? Gab es persönliche Erfahrungen, die Ihre Sicht auf dieses Thema geprägt haben?

Gökçen Yüksel: Im Studium habe ich gemerkt, dass mich vor allem Themen interessieren, zu denen ich auch einen persönlichen Bezug oder biographischen Zugang habe. Es war daher naheliegend, dass ich nach dem Studium der Sozialen Arbeit meinen Master in Migrationssoziologie gemacht habe.

 

Praxiskiste: Warum finden Sie es in der heutigen Gesellschaft so wichtig, sich mit Migration und ihren sozialen Auswirkungen in der Sozialen Arbeit zu beschäftigen?

Gökçen Yüksel: Ich glaube, zum einen ist es gar nicht mehr vermeidlich, nicht über Migration zu sprechen. In Kempten liegt der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte bei über 40 Prozent. Wenn man sich überlegt, dass sich die Zusammensetzung der Bevölkerung in den vergangenen Jahren so verändert hat,  wirft das Fragen in Bezug auf die pluraler werdende Gesellschaft auf: Was bedeutet Migration in den unterschiedlichen Bereichen dieser Gesellschaft? Wie sprechen wir als Gesellschaft über Zugehörigkeit? Welche Gruppen nehmen wir als besonders fremd wahr? Ich finde, wenn man mit einem sensiblen Blick auf die Gesellschaft schaut, dann fallen einem viele weitere Fragen ein.

Praxiskiste: Mit welchen spezifischen Problemen oder Hindernissen kämpfen SozialarbeiterInnen, die mit Menschen mit Migrationshintergrund oder in von Migration geprägten Kontexten arbeiten?

Gökçen Yüksel: Zunächst ist da die Zunahme rechtsextremer, rechtspopulistischer Zustände oder Entwicklungen. In Bereichen wie der politischen Bildung und Demokratiebildung gibt es immer wieder Kürzungen, weil gesagt wird, dass diese Arbeit nicht relevant sei. In der Praxis kann es als SozialarbeiterIn auch zermürbend sein, im Alltag mitzubekommen, wie widersprüchlich die Anforderungen an sie sind: »Das sind die rechtlichen Rahmenbedingungen, das ist der staatliche Auftrag und das ist das Mandat gegenüber dem Adressaten.« Ich glaube, dieses Navigieren zwischen den unterschiedlichen Anforderungen, den unterschiedlichen Mandaten, ist eine zentrale Herausforderung, der man sich stellen muss.

Praxiskiste: Welche Rolle spielen soziale Ungleichheiten, Diskriminierung und Stigmatisierung im Leben von Menschen mit Migrationshintergrund?

Gökçen Yüksel: Die Kategorie Migrationshintergrund hat erst einmal wenig Aussagekraft. Sie sagt auch nicht unbedingt etwas darüber aus, ob ein Mensch Diskriminierung erfährt. Wenn wir über Ungleichheiten und Diskriminierung sprechen, ist eine intersektionale Perspektive wichtig. Das heißt, nicht der Migrationshintergrund alleine ist von Relevanz, sondern andere Kategorien, wie die „Hautfarbe“, das sozioökonomische Milieu, aus dem eine Person stammt, über wieviel kulturelles und soziales Kapital er oder sie verfügt. Und ob sie als „migrantisch“ wahrgenommen wird. All diese Kategorien tragen dazu bei, wie Menschen in der Gesellschaft wahrgenommen werden.

Praxiskiste: Nun zu den gesellschaftlichen Barrieren: Welche systemischen Hürden erschweren es MigrantInnen, gleiche Chancen und Rechte in unserer Gesellschaft zu bekommen?

Gökçen Yüksel: Mit dem unterschiedlichen Rechts- und Aufenthaltsstatus von Personen gehen auch unterschiedliche Teilhabemöglichkeiten und Rechte einher. Eine Person, die rechtlich nur geduldet ist, hat andere Rechte als eine Person, die über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt. Aber auch deutsche StaatsbürgerInnen mit sichtbarer Migrationsgeschichte machen Diskriminierungserfahrungen, zum Beispiel in Bereichen wie Bildung, Arbeit, Wohnung. Diskriminierung ist kein Einzelschicksal, sondern ein strukturelles Problem.

Praxiskiste: Haben Sie für uns ein Beispiel dazu?

Gökçen Yüksel: Wir wissen beispielsweise, dass Frauen mit Kopftüchern sehr viel häufiger bei einer Bewerbung nicht eingeladen werden. Unabhängig davon ob sie deutsche Staatsbürgerinnen sind oder nicht.

Praxiskiste: Wie kann die Vielfalt im Team – zum Beispiel durch Fachkräfte mit Migrationshintergrund – die Soziale Arbeit bereichern?

Gökçen Yüksel: Es ist enorm wichtig, dass es eine diverse Zusammensetzung der Teams gibt. Gerade in Bezug auf die Soziale Arbeit finde ich es ganz zentral, dass SozialarbeiterInnen aus den unterschiedlichsten Milieus kommen. Am besten wäre es, wenn Teams möglichst die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Ich glaube, das verändert auch die Angebote und Projekte. Vielleicht werden dann noch mehr Projekte angeboten, die näher an den Lebenswirklichkeiten und Bedürfnissen der AdressatInnen ist.

Praxiskiste: Welche Kompetenzen sind Ihrer Meinung nach besonders wichtig, um Diskriminierung vorzubeugen und Inklusion in der Sozialen Arbeit zu fördern?

Gökçen Yüksel: Ich glaube, eine Kompetenz ist, Menschen erst einmal wirklich zuzuhören und sie auch ernst zu nehmen, ihre Erfahrungen nicht zu bagatellisieren, nicht zu leugnen, nicht zu sagen: »Das ist nicht so schlimm« oder »Das bildest du dir ein!« Grundsätzlich ist es wichtig, Neuem gegenüber nicht ablehnend oder misstrauisch zu sein. Neugier und Offenheit sind sicherlich auch nicht verkehrt. Vor allem auch das Reflektieren der eigenen Bubble, in der man sich aufhält. Wir neigen gerne dazu, uns mit Menschen abzugeben, die uns ähnlich sind. Also aus einem ähnlichen sozialen Milieu stammen. Daher kann man sich ruhig auch mal selbst die Frage stellen: Wie heterogen ist eigentlich mein eigener Freundeskreis? Mein eigenes Umfeld?

Praxiskiste: Was bedeutet in diesem Zusammenhang Inklusion für Sie?

Gökçen Yüksel: Inklusion bedeutet für mich die Frage nach: »Sind die Ausgangsvoraussetzungen, die Strukturen so, dass möglichst alle teilnehmen können?« In Bezug auf das Bildungssystem können wir sagen: »Nein, sind sie nicht!« Für die Soziale Arbeit wäre zu überlegen: „Wen möchten wir erreichen?« und »Warum erreichen wir manche nicht?« Das Problem ist sicher auch, dass die Soziale Arbeit dauernd navigieren muss zwischen Strukturen und Rahmenbedingungen, die vorgegeben und nicht immer inklusiv sind und den Interessen und Bedürfnissen der Zielgruppen.

Praxiskiste: Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie in der Sozialen Arbeit angesichts einer zunehmend diversen und globalisierten Gesellschaft?

Gökçen Yüksel: Migration wird nicht weniger werden, sondern zunehmen – Gründe sind u.a. Konflikte, Kriege und der Klimawandel, der dazu führt, dass bestimmte Regionen nicht mehr bewohnbar sein werden. Aber auch der demographische Wandel ist ein Grund, der Zuwanderung in manchen Ländern erforderlich macht. Das Thema Migration wird also auch für die Soziale Arbeit eine immer größere Rolle spielen.

Praxiskiste: Gibt es konkrete Projekte oder Ansätze, die sich besonders erfolgreich mit den Themen Migration, Diskriminierung und sozialer Ungleichheit auseinandersetzen?

Gökçen Yüksel: Was sich etabliert hat, sind intersektionale Perspektiven auf Diskriminierung und soziale Ungleichheit und auch Konzepte wie Empowerment und Power Sharing. Oder auch theoretische Ansätze wie Superdiversität. Da geht es darum, dass Sie einmal ganz genau auf eine scheinbar ähnliche Gruppe schauen. Sie werden dann immer mehr Unterschiede erkennen. Zum Beispiel bei der Gruppe, die wir als MigrantInnen bezeichnen: Sie unterscheiden sich in Bezug auf Herkunft, Sprache, Religion etc. aber auch in Bezug auf den Rechtstatus. Einige sind deutsche StaatsbürgerInnen, andere leben seit zehn Jahren als Geduldete, andere haben einen ausländischen Pass, obwohl sie in Deutschland geboren wurden.

Praxiskiste: Wir kommen zur letzten Frage: Welche Ratschläge würden Sie angehenden SozialarbeiterInnen geben, um mit Themen wie Migration, Diskriminierung und Ungleichheit umgehen zu können?

Gökçen Yüksel: Das ist sehr subjektiv, aber ich würde sagen: Lesen Sie und setzen Sie sich wissenschaftlich und kritisch mit diesen Themen auseinander. Es geht nicht um Erfahrungswerte, denn die können trügen. Was ich auch wichtig finde, ist Vernetzung und Austausch.

Praxiskiste: Warum schreiben Sie der Vernetzung so eine wichtige Rolle zu?

Gökçen Yüksel: Gerade wenn es um Ungleichheiten und Diskriminierung geht, muss man auf dem Schirm haben, dass diese keine individuellen Problemlagen sind, sondern strukturell bedingt. Der Austausch mit KollegInnen kann helfen solche Muster zu erkennen und auch Erfahrungen zu teilen. Als Einzelperson kann man sich schnell überfordert und unsicher fühlen. Vernetzung gibt Rückhalt. Und es stärkt das Gefühl, gemeinsam etwas bewirken zu können.