Die Postkartenschreiberin - Praxiskiste
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Sabine Rieker im Stuttgarter "Kantinchen". Foto: Yvonne Ryan

Die Postkartenschreiberin

In Rekordzeit ist der Dreizeiler verfasst, mit einem Fingertippen versendet. Selbstverständlich an den Gruppenchat. Woher soll man auch die Zeit nehmen, um jedem Einzelnen zu schreiben? Unmöglich! Nein, nur ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher erscheint es, dies in Papierform zu tun. „Die Postkartenschreiberin“ macht genau das – und verdient sogar Geld damit. 

 

In Gedanken versunken schaut sie aus dem Fenster auf die Straße. Ihr Blick folgt einer Plastiktüte, die im Wind umherwirbelt. Faszination, Belustigung und Gelassenheit spiegeln sich in ihren großen blauen Augen wider. Ein Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Die zierliche Frau liegt auf der Fensterbank ihres Stuttgarter Stammcafés „Kantinchen“. „Sabine?“ Sie dreht den Kopf. Der blonde Pony fällt ihr in die Augen. „Oh, hallo, das war jetzt gerade wie ein sanfter Wecker“. Sie lacht. Ein angenehmes, ungezwungenes Lachen, das sofort ansteckend wirkt. Das ist also „Die Postkartenschreiberin“.

Was sich für so manchen eher als obligatorisches hastiges Gekritzel am letzten Urlaubstag eingeschlichen hat, ist für Sabine Rieker Leidenschaft und Beruf(ung) zugleich. Seit zwei Jahren hat die Wahlstuttgarterin es sich zur Aufgabe gemacht, anderen Menschen ganz besondere postalische Grüße zukommen zu lassen: Keine Standardwetterberichte, keine Phrasendrescherei, keine Hochglanzurlaubsmotive, die kaum voneinander zu unterscheiden sind. Ihre Postkarten sind Unikate – kleine Kunstwerke. Jede Postkarte ist eigens für ihren Empfänger ausgesucht, geschrieben und gestaltet. Auf ihren Streifzügen durch Stuttgart entdeckt Sabine Rieker immer das ein oder andere Exemplar, das ihr gefällt. Inzwischen schicken ihr Postkartendesigner aber häufig auch Karten zu. Um den Kugelschreiber, ihr bevorzugtes Schreibutensil, zu zücken, braucht die 31-Jährige vor allem eine entspannte Atmosphäre. Diese findet sie meist in ihren Stammcafés oder in ihrer WG. Sabine Rieker liebt die Ruhe nicht nur – sie selbst ist ein Ruhepol: „Meine Mitbewohner sagen immer, mit mir in der Wohnung ist es um zehn Dezibel leiser, als ohne mich“. Sie lacht losgelöst. Nicht nur ihre entspannte Art hat ihre Mitbewohner überzeugt, auch ihre Postkartenliebe begeisterte: Auf ihr WG-Zimmer hat sie sich – selbstverständlich – mit einem ihrer Unikate beworben. Ideal, wenn die WG selbst sehr postkartenliebend ist: Ein bunter Mix aus Karten schmückt die Sitzecke der Altbauwohnung.

 

„Die Liebe, mit der sie Postkarten schreibt, springt dir direkt ins Auge“

 

Jochen ist Barista in der Espressobar „Herbert’z“ – einem weiteren Stammcafé Sabine Riekers. Sie neckt ihn in ihren Karten gerne mit der Bezeichnung „Thekentänzer“. Jochen ist einer der zahlreichen Menschen, die die Postkartenschreiberin mit ihren aufmerksamen Zeilen berührt. Verschnörkelte, öfter auch gezeichnete Buchstaben und eine routinierte Schönschrift charakterisieren ihre Kunstwerke. Wortspiele – mal mit, mal ohne Klammern –  und (rhetorische) Fragen an den Adressierten bergen literarisches Potential. Meistens berichtet sie aus ihrem Leben und teilt auch Persönliches mit den meist unbekannten Empfängern. So offen, ungezwungen und spontan wie der Inhalt ihrer Postkarten ist auch dessen Anordnung. „Meist brauchen meine Karten länger, bis sie ankommen. Sie müssen handverlesen werden, wenn die Position von Adresse und Briefmarke nicht der Norm entspricht; aber wozu die Eile?“, äußert die Stuttgart-Liebhaberin verschmitzt.

 

Foto: Bildreich Martina Issler

Foto: Bildreich Martina Issler

 

„Gute-Laune-Grüßle sendet Dir von Herzen Die Postkartenschreiberin“ 

 

Entschleunigung ist ein Wort, das aus dem Alltag der Postkartenschreiberin inzwischen nicht mehr wegzudenken ist. Sie macht genau das, was sie glücklich macht: Schreiben. Mal für ein paar Stunden, mal einen ganzen Stapel am Tag – oder auch mal nur eine einzige Postkarte. Für ihre Leidenschaft möchte sich Sabine Rieker Zeit nehmen und sich nicht unter Druck setzen. Dennoch hat sie im vergangenen Jahr ungefähr 1800 Postkarten auf ihren Weg geschickt. Anfragen für Aufträge erreichen sie hauptsächlich über ihre Facebook-Fanseite oder via Mund-zu-Mund-Propaganda. Menschen, die anderen oder sich selbst eine Freude machen wollen, kontaktieren sie. Viele würden gerne Postkarten bekommen, aber selbst nicht gerne zum Stift greifen. Jeder Auftrag ist individuell: Ihre Kunden entscheiden, wie oft der Empfänger von einer Karte überrascht werden soll und ob er erfahren soll, wer der Auftraggeber ist. Die Künstlerin legt jedoch Wert darauf, nicht im Namen einer anderen Person zu schreiben. Jede Postkarte unterzeichnet sie mit ihrem Pseudonym „Die Postkartenschreiberin“.

 

„Ob man davon leben kann, weiß ich nicht – ich kann es jedenfalls“ 

 

Wenngleich vor allem die anfängliche Reaktion ihrer Familie auf ihren Beruf verhalten ausfiel, erhält Sabine Rieker sehr viel Zuspruch: „Die Leute sind überrascht und gerührt. Sie schätzen es sehr, so persönliche Postkarten zu bekommen. Postkarten, bei denen sie merken, dass ich mir dafür Zeit genommen habe“. Sich für jemanden Zeit zu nehmen – diese Aufmerksamkeit komme heutzutage oft zu kurz, erklärt sie. All die positiven Reaktionen auf ihre kreativen Einzelstücke haben die Stuttgart-Liebhaberin, die sich selbst als „schüchtern“ bezeichnet, verändert. Manchmal kann sie ihre Wandlung selbst kaum begreifen oder in Worte fassen, sagt sie. „Ich war verschlossen und jetzt spreche ich manchmal einfach wildfremde Menschen an“. Verwundert runzelt sie die Stirn und schüttelt leicht den Kopf. Auf die Frage, ob es möglich sei, vom Postkartenschreiben leben zu können, antwortet sie: „Ob man das kann, weiß ich nicht, ich kann es jedenfalls“. Welchen Betrag ihre Kunden für einen Auftrag bezahlen, überlässt sie ihnen selbst. Auch würden manche Leute beispielsweise in Form von Essenseinladungen oder mit Briefmarken bezahlen. Jeder Tag der Postkartenschreiberin ist anders und spannend: voller besonderer Begegnungen und Dankbarkeit.

 

Wenn Kindheitsträume ins Verborgene rutschen

 

Bereits von Kindesbeinen an hatte Sabine Rieker den Wunsch verspürt, später Schriftstellerin zu werden. „Das ist brotlose Kunst, von der du nicht leben kannst“ war jedoch einer von vielen Glaubenssätzen, die sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hatten. Außerdem habe sie sich das Schreiben nie wirklich zugetraut, fügt sie nachdenklich hinzu. Vergessen war ihr Kindheitstraum nie vollständig – viel mehr war er verschüttet; ins Verborgene gerutscht: Sie strebte nach Perfektion, lief im Hamsterrad Hürden und verschmähte die Pause-Taste. Nach ihrem abgeschlossenen Magisterstudium der Kunstgeschichte und Germanistik in Bonn stieg sie nahtlos ins Berufsleben ein. Eine Stelle im Büro der Deutschen Physikalischen Gesellschaft war ihr vorläufiger Anker: Erst einmal Geld zu verdienen und eine gewisse Sicherheit zu haben sei das, worauf es ihr ankäme, dachte sie. Sie könne ja nebenher herausfinden, welche Arbeit sie wirklich faszinieren würde.

 

„So eine Neuorientierungsphase ist mit Schmerz verbunden – ich glaube, das geht gar nicht anders“

 

Seit sie denken konnte, hatte die zierliche Blondine eine tiefe Sehnsucht nach Hamburg verspürt. Kurzerhand entschied sie sich dazu, dort eine einjährige Ausbildung als Texterin zu machen. Sie merkte rasch, dass sie für Kreativität auf Knopfdruck nicht geschaffen war. Das Jahr habe sie dann trotzdem durchgezogen – mit dem ein oder anderen kleineren und größeren Nervenzusammenbruch, erinnert sich Sabine Rieker. Inzwischen kann sie darüber lachen, aber das Stocken in ihrer Stimme verrät: Unbeschwert oder lustig war diese Zeit nicht.

 

Sabine Rieker im Stuttgarter "Kantinchen". Foto: Yvonne Ryan

Foto: Yvonne Ryan


 

Postkarten-Abo gegen Cappuccino-Abo 

 

Zurück in Bonn gab ihr eine anschließende Gesprächstherapie Halt. Nicht nur innerlich, auch äußerlich legte sie viel Ballast ab. Sie sei von einem absoluten Messi zu einer überzeugten Minimalistin geworden, erzählt die Postkartenschreiberin lachend. Dabei kräuselt sie ihre Nase. Sie wirkt glücklich und strahlt nur so vor Lebensfreude und Gelassenheit. Die frühere Schwermut scheint verflogen. Auch habe sich während der Therapie immer deutlicher herauskristallisiert, dass das Schreiben „ihr Ding“ sei, erinnert sie sich. Um mehr Struktur in ihren Tag zu bekommen, stattete Sabine Rieker dem Bonner Café „Lieblich“ täglich einen Besuch ab. Dort füllte sie Postkarte um Postkarte mit ihren Gedanken. Sie schrieb an Freunde, an ihre Familie, aber auch einfach an Café- oder Restaurantbesitzer, um sich bei ihnen für das leckere Essen oder die besondere Lokalität zu bedanken. Der Besitzer ihres Stammcafés, Boris, fragte sich, wer die junge Frau war und sprach sie an. Fasziniert von ihrer Leidenschaft fürs Schreiben bot er ihr einen Deal an: Postkarten-Abo gegen Cappuccino-Abo. Sie hatte ihren ersten Auftrag in der Tasche und „Die Postkartenschreiberin“ war geboren.

Weil sie ihr Leben als sehr langweilig empfunden hatte, begann Sabine Rieker, nicht nur Postkarten, sondern auch ihren Alltag mit Leben zu füllen. Heute hält sie zum Beispiel Postkartenlesungen, besucht Theaterworkshops und probiert viel Neues aus. „Es gibt so viel zu erleben und entdecken, wenn man versucht, sich immer den Blick des Touristen zu bewahren“, ist sie überzeugt.

 

„Sei Pippi, nicht Annika“ 

 

Die Liebe führte die Postkartenschreiberin schließlich nach Stuttgart. Dort überrascht, fasziniert, und berührt sie viele Menschen mit ihrem Schreibtalent. „Auch wenn ich früher nicht daran geglaubt habe, bin ich jetzt Schriftstellerin – nur anders als gedacht“. Wieder das angenehme, ungezwungene Lachen. Ihr Blick schweift durch das „Kantinchen“. Sich auf diese Weise mitzuteilen, habe viel Mut erfordert, erinnert sie sich. Bei diesen Worten sind ihre großen blauen Augen von Stolz und Lebensfreude erfüllt – etwas Ungläubigkeit mischt sich nach wie vor dazu.  „Sei Pippi, nicht Annika“ lautet die Aufschrift einer der vielen Postkarten, die auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer verstreut liegen. Eine Postkarte, die wie für sie geschaffen ist.

 

Text: Lara Voelter

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